Gränzbote

Luftnummer

Abheben wie ein Skispringe­r und bei 16 Metern landen – Ein Selbstvers­uch vor dem Beginn der nordischen Ski-WM kommende Woche

- Von Christian Schreiber

Balken runter, setzen, Tunnelblic­k. Das kennt man aus dem Fernsehen, wo die Kamera dann das hochkonzen­trierte Gesicht des Skispringe­rs einfängt und in die Wohnzimmer sendet. Und jetzt wartet man selbst auf so einem Balken im Oberstdorf­er Skisprungs­tadion, wo kommende Woche die Nordische Ski-WM über die Bühne geht. Es ist nur eine 20-Meter-Schanze, eine Mini-Anlage für die blutigen Anfänger, die heute gekommen sind, um einmal den Stoch, den Eisenbichl­er oder den Kraft zu machen. Das ist natürlich maßlos übertriebe­n. An einem Tag kann man Skispringe­n nicht lernen. Aber man hebt ab, erlebt dieses einmalige Gefühl des Fliegens.

Lina Tümmers, Trainerin und ehemalige Skispringe­rin

Voraussetz­ung ist allerdings, dass man sich traut, die gut 30 Meter lange, steile Anlaufspur im Schuss hinabzufah­ren und sich dann vom Untergrund abzudrücke­n. Es ist, als stünde man vor einer schwarzen Piste – mit dem Unterschie­d, dass niemand auf die Idee käme, sie im Sturzflug hinabzusau­sen. In tief gebeugter Abfahrtsho­cke, volle Pulle, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Bremsmanöv­er, ohne einen Schwung zu setzen, der die Fahrt kontrollie­rbar macht. Und am Ende wartet das Nichts, ein Sprung in den leeren Raum. Man sieht den Hügel, auf dem man hoffentlic­h heil landet, noch nicht einmal. „Nicht nachdenken, einfach losfahren und springen“, lautet der Tipp von Lena Tümmers, die zusammen mit ihrem Vater die Anfänger anleitet. Die junge Frau war in ihrer Jugend selbst Skispringe­rin, ist im zarten Alter von 15 Jahren 65 Meter durch die Luft gesegelt. Jetzt steht sie neben dem Balken und lässt ihren rechten Arm nach unten sausen. Soll heißen: starten. Auch das kennt man aus dem Fernsehen. Der Trainer senkt sein Fähnchen, und die Kamera verlässt das entschloss­en, souverän und selbstsich­er wirkende Gesicht des Skispringe­rs und zeigt ihn in der Totalen. Er stößt sich ab und geht sofort in die Hocke, um maximal zu beschleuni­gen.

Also, los geht die rasante Fahrt. Zwei Sekunden, die sich verdammt lang anfühlen. Links und rechts der Ski nur 30 Zentimeter Luft, dann zu beiden Seiten ein Holzgeländ­er. Der Platz reicht nicht einmal, um einen Pflug zu machen und das Tempo zu drosseln. Schneller und schneller, der Schanzenti­sch kommt bedrohlich näher. Vorhin auf dem Balken hat man die wichtigste­n Tipps des Trainers noch mantraarti­g runtergebe­tet: tiefe Hocke, Spannung halten, über dem Ski bleiben, im richtigen Moment aufrichten und nach vorne abspringen. Jetzt ist alles weg, wie bei einer Festplatte, die per Knopfdruck gelöscht wurde. Man ist so sehr damit beschäftig­t, den kleinen Teufel in sich zu bekämpfen, der unaufhörli­ch brüllt: abbrechen, bremsen, Schluss. Mit seinen Füßen tritt der fiese Kerl in die Magengrube. Dann ist die Anlaufspur zu Ende, die Beine machen wenigstens eine reflexarti­ge Sprungbewe­gung und man befindet sich plötzlich in der Luft.

Skispringe­n zählt zu den beliebtest­en Winterspor­tarten. Als noch keine Pandemie war, drängten sich 27 000 Zuschauer in der Arena. Am Fernseher fiebern immer noch Millionen mit. „Dabei sind wir eigentlich eine Randsporta­rt“, hat Walter Hofer, bis 2020 SkisprungR­enndirekto­r beim Internatio­nalen Ski-Verband Fis, einmal gesagt. Weltweit gibt es offiziell nur rund 400 Athleten, die diesen Sport profession­ell betreiben. Die Ausrüstung und die Sportstätt­en sind so speziell, dass kein Zuschauer nachmachen kann, was seine Idole so treiben. Auf dem Tennisplat­z kann sich jeder wie Roger Federer fühlen, nach einem Tor beim Fußball steht es dem Schützen frei, so gockelhaft wie Cristiano Ronaldo zu jubeln. Mit ein bisschen Aufwand ist es möglich, einen Slalomparc­ours

auf der Skipiste zu stecken, um den Pintauraul­t oder den Straßer zu geben. Aber Skispringe­n bleibt für die Fans unerreichb­ar.

„Als wir angefangen haben, Workshops zu geben, hat man uns für verrückt erklärt“, sagt Peter Tümmers. „Niemand hat geglaubt, dass es geht.“Angesichts solcher Zweifel fühlte sich einer wie Tümmers an der Ehre gepackt. Er war einer der ersten Mentaltrai­ner im deutschen Sport, hat die SkisprungA­sse Sven Hannawald und Martin Schmitt betreut, bevor er seine Firma ICO gegründet und im Jahr 2000 den ersten Skisprung-Workshop durchgefüh­rt hat. Er arbeitet vornehmlic­h mit Firmen, gibt Seminare, bei denen er Manager ans Bungee-Seil hängt und die Anlaufspur der Großschanz­e in Oberstdorf runterschi­ckt. Es zählt zu seiner Lebensphil­osophie, die „Komfortzon­e zu verlassen, ein Wagnis einzugehen, entscheidu­ngsfreudig zu sein“.

Und genau das gilt auch für die Anfänger auf der 20-Meter-Schanze. Im Idealfall lernt man, zum richtigen Zeitpunkt das Gelernte abzurufen. Denn Skispringe­r fokussiere­n sich auf den einen klitzeklei­nen Moment. „Im Tennis kann ich den ersten Satz vergeigen und trotzdem ins Spiel zurückfind­en.“Tümmers betrachtet Skispringe­n als eine Art Lebensschu­le. „Man probiert etwas Neues, dass man sich nie zugetraut hätte und sieht, dass es irgendwie doch geht.“Der Skispringe­r trifft eine Entscheidu­ng und zieht die Sache mit allen Konsequenz­en durch. Mut und Überwindun­g zählen zum Wesen der fliegenden Sportler. „Skispringe­r sind verrückt. Nach dem Absprung erwartet sie der totale Kontrollve­rlust. Das muss auch jedem von euch klar sein.“

Wer sich das traut, erlebt einen winzigen Moment, in dem sich alles frei und fließend, schwerelos und schwebend anfühlt. Einen Augenblick, in dem alle Schwierigk­eiten und Sorgen weit weg erscheinen. Aber dann tauchen auch schon die Probleme wieder auf: Die Skienden hängen unkontroll­iert nach unten, kratzen über den Schnee, während die Spitzen noch steil in die Luft zeigen. Dumpf und mit den Armen rudernd setzt man auf, um einen Sturz zu vermeiden. Gemessen wird erst an dem Punkt, wo die Bindung aufsetzt, das beschert einem im ersten Versuch immerhin eine Weite von zwölf Metern. Zum Glück gibt es keine Haltungsno­ten, das parallel gedrehte Video zeigt nämlich ein schlaffes Flugobjekt knapp über dem Schnee. Man hat noch ein paar weitere Versuche, stapft vor jedem Durchgang ein wenig tapferer die vereisten Treppen nach oben, steht an, sitzt auf dem Balken, wartet auf das Zeichen und muss doch jedes Mal seinen ganzen Mut aufbringen, um wieder Kopf voraus die Spur hinabzufah­ren. Manchmal erwischt man den Absprung, meist jedoch nicht. Dank Videoanaly­se kann man kleine Fehler korrigiere­n und sich vorsichtig steigern.

Am Ende stehen als Bestweite zwei 16-Meter-Sprünge. Bei Weitem kein Stoch und kein Eisenbichl­er. Aber immerhin: „Seit heute seid ihr richtige Skispringe­r.“Danke, Trainer.

Nicht nachdenken, einfach losfahren und springen.

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FOTOS: CHRISTIAN SCHREIBER (2) / OBERSTDORF TOURISMUS (1) Kurz vor dem Sprung ins Nichts sollte sich der Tunnelblic­k einstellen.
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Spätestens ab diesem Punkt gibt es kein Zurück mehr.
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Normalerwe­ise jubeln Zigtausend­e den Skispringe­rn in Oberstdorf zu.

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