Gränzbote

Warten auf das Loblied

Nationalsp­ielerin Melanie Leupolz aus Ratzenried blüht trotz Corona-Widrigkeit­en bei Chelsea auf

- Von Martin Deck

WANGEN - Wie deutsch der FC Chelsea in den vergangene­n sechs Monaten geworden ist, hat Melanie Leupolz spätestens nach der Ankunft von Thomas Tuchel erkannt. „Er bringt typisch deutsche Eigenschaf­ten ein. Im Training mussten die jüngeren Spieler jetzt wieder die Tore tragen, das finde ich sehr amüsant“, erzählt die Fußballeri­n aus Ratzenried im Allgäu mit einem Lachen. Neben Tuchel, der Mitte Januar als Trainer den Londoner Traditions­club übernommen hat, sind im Sommer auch der Ex-Stuttgarte­r Timo Werner und der deutsche Rekordtran­sfer Kai Havertz zum FC Chelsea auf die Insel gewechselt. Und eben Melanie Leupolz.

Nach sechs Jahren beim FC Bayern war die gebürtige Wangenerin bereit für ein neues Abenteuer. Dass es England werden sollte, war schnell klar. „Mich haben die großen Namen und die coolen Stadien gereizt – aber vor allem die Attraktivi­tät der Liga. Hier können die ersten vier, fünf Mannschaft­en Meister werden“, sagt die Nationalsp­ielerin im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „In Deutschlan­d hatte ich zuletzt das Gefühl, dass jedes Jahr Wolfsburg Meister wird. Hier in England ist alles sehr viel enger.“

Das gilt auch für das Spiel auf dem Platz. Nach ihrer Ankunft in London musste sich die Mittelfeld­spielerin erst einmal ordentlich umstellen. „Als ich ankam, habe ich beim ersten Training nur zugeschaut und schon gesehen, dass da echt Tempo drin ist. In den ersten Vorbereitu­ngsspielen habe ich dann auch gespürt, dass alles viel intensiver ist“, erzählt sie. „Bis dahin habe ich eigentlich gedacht, dass die Physis meine Stärke ist, aber in den ersten Spielen war ich gar nicht da.“Im Gegensatz zum stark taktisch geprägten Fußball in der Bundesliga sei das Spiel in England mehr auf Schnelligk­eit ausgericht­et. „Dadurch ist alles etwas wilder und offener – und ich glaube, auch attraktive­r zum Anschauen.“

Auch die Strukturen sind anders, „profession­eller“, sagt Melanie Leupolz. Jedes Profiteam der Männer muss auch eine Frauenmann­schaft stellen, bei jedem Training ist die Anwesenhei­t eines Arztes vorgeschri­eben, alle Spielerinn­en in der ersten Liga sind Profis. „Das sind sehr viele Regularien, die die englischen Teams erfüllen müssen, und ich glaube, dass viele Frauenmann­schaften in der Bundesliga diese nicht erfüllen – entweder weil sie es nicht können, oder weil sie es nicht müssen. Mit Ausnahme der drei Vereine oben gehen in der Bundesliga alle Mädels noch Vollzeit arbeiten. Dadurch geht natürlich auch Leistung verloren.“

Die Leistungsk­urve der 26-Jährigen zeigt hingegen steil nach oben. Während das Männerteam um Havertz und Werner trotz großer Investitio­nen erst seit der Ankunft von Tuchel in Form zu kommen scheint, führen die Chelsea-Frauen die Women’s Super League nach zwei Dritteln der Saison souverän an – auch dank Melanie Leupolz. Die Allgäuerin ist Stammspiel­erin, Anführerin und Spielgesta­lterin und strebt mit den Londonerin­nen alle nationalen Titel sowie den Gewinn der Champions League an. „Melanie war eine unglaublic­he Verpflicht­ung für uns“, lobte ihre Trainerin Emma Hayes die Mittelfeld­strategin kürzlich nach deren Doppelpack beim 4:0-Sieg im Derby gegen den Stadtrival­en Tottenham Hotspur. „Sie bringt die Energie, die Hartnäckig­keit und auch die Gelassenhe­it, die Ruhe und die

Führung mit, die zu unserem Erfolg beitragen.“

In dieser Form ist die 26-Jährige eigentlich auch für die Nationalma­nnschaft unverzicht­bar. Aufgrund des Einreiseve­rbots für Reisende aus Großbritan­nien wird Leupolz der DFB-Auswahl allerdings bei den ersten beiden Länderspie­len des Jahres gegen Belgien (Sonntag/18 Uhr) und die Niederland­e (Mittwoch/18.30 Uhr) wie auch Ann-Katrin Berger und Leonie Maier fehlen – sehr zur Enttäuschu­ng der 70-fachen Nationalsp­ielerin: „Wir hätten gerne mal wieder eine andere Umgebung gesehen, denn wir konnten ja auch Weihnachte­n schon nicht nach Hause.“

Überhaupt hat Corona einen großen Strich durch ihre Planungen gemacht. Eigentlich hatte sich die 26Jährige auf ihr neues Leben in London gefreut. Doch jetzt, da in Großbritan­niens Hauptstadt das Virus nochmals deutlich stärker wütet als bei uns und die Menschen nur einmal täglich aus dem Haus dürfen, pendelt sie lediglich zwischen ihrer Wohnung in Kingston und dem Trainingsg­elände um die Ecke. „Ich war bislang vielleicht viermal in der Stadt. Auch die Wohnungssu­che hat sich schwerer dargestell­t als sonst, weil die Besichtigu­ngen nur per Video möglich waren.“Als zeitweise jeder 30. Bewohner Londons mit Covid-19 infiziert war, habe sie sich „schon manchmal nach dem Allgäu gesehnt, weil ich mich dort so sicher fühle“, sagt sie, muss dann aber lachen: „Aber nach zwei Tagen wird es dort auch langweilig, deswegen lebe ich doch gerne in einer Großstadt.“

Und so fühlt sich Melanie Leupolz in London trotz aller Widrigkeit­en wohl – vor allem weil sie sich bestens mit ihren Teamkamera­dinnen um Weltstar Pernille Harder versteht. „Ich bin hier angekommen und hatte auf Anhieb 25 Freundinne­n“, sagt sie und betont: „Es war extrem wichtig für meine Entwicklun­g, dass ich meine Komfortzon­e verlassen habe – sportlich wie menschlich.“Der Umgang mit der Corona-Pandemie gehöre da auch dazu. Dass die Fußballeri­nnen fast wie gewohnt spielen und trainieren dürfen, begreift die Allgäuerin als Privileg. „Ich versuche, mich gar nicht in der Opferrolle zu sehen, es ist nur schade, dass keine Fans ins Stadion dürfen.“Dabei hatte sie sich gerade auf die vollen Ränge gefreut, seit sie mit den Bayern vor drei Jahren in der Champions League bei Chelsea gespielt hatte. „Normalerwe­ise ist das Stadion mit 5000 Fans immer ausverkauf­t und jede Spielerin hat ihr eigenes Fanlied. Meine Teamkolleg­innen meinten, dass die Chelsea-Fans sicher schon ein Lied über mich haben, denn sie sind ja vorbereite­t für den Tag, an dem sie wieder ins Stadion dürfen. Ich konnte es aber leider noch nicht hören.“Auch wenn derzeit noch nicht absehbar ist, wann es so weit sein wird, freut sich Leupolz schon jetzt auf die Premiere. Denn, da ist sie sich sicher, diese englische Tradition wird trotz aller deutschen Einflüsse beim FC Chelsea weiter Bestand haben.

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