Der Briefkasten als Wahlhelfer
Die Anzahl der Briefwähler könnte sich verdoppeln – Was das für die Ergebnisse bedeutet
STUTTGART/RAVENSBURG - Der Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg nimmt zwar erst langsam Fahrt auf. Zehntausende haben sich aber bereits entschieden, und ihr Kreuzchen auf dem Wahlschein gesetzt. Denn vor allem wegen der Corona-Pandemie ist die Briefwahl in diesem Jahr so populär wie nie zuvor.
In Ravensburg haben beispielsweise schon zwei Wochen nach Versand der Wahlbenachrichtigungen über 10 000 Bürger ihre Briefwahlanträge bei der Stadtverwaltung gestellt. Das sind jetzt schon so viele wie nie zuvor bei einer Wahl in Ravensburg.
Nicht nur in Oberschwaben, auch in zahlreichen Wahlkreisen des Landes liegen die Anträge auf Briefwahl jetzt schon deutlich über der Gesamtanzahl der vergangenen Wahl. So gibt es Gemeinden und Städte, die davon ausgehen, dass jede zweite Stimme per Briefwahl eingeht. Im Jahr 2016 hatte nur jeder fünfte Wähler bei der Landtagswahl seine Stimme auf dem Postweg abgegeben. Vor 25 Jahren war es etwa jeder Zehnte.
Auch in Tuttlingen sind bis Ende Februar rund 4250 Briefwahlanträge eingegangen. Eine deutliche Steigerung, so ein Sprecher der Stadt. Deshalb hat die Verwaltung die Briefwahlbezirke, also die Anzahl der Auszählungsgruppen für Briefstimmen, von bisher vier auf acht verdoppelt.
Auch in kleineren Gemeinden wird die Briefwahl verstärkt genutzt. In Öpfingen im Alb-Donau-Kreis haben sich Mitte Februar schon 380 Briefwähler gemeldet – bereits doppelt so viele wie 2016. „Wir rechnen am Ende schon mit rund 500 Briefwählern, es ist ja noch Zeit“, sagt Hauptamtsleiter Axel Prosser.
Von der deutlich steigenden Zahl der Briefwähler dürften nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Uwe Jun von der Universität Trier vor allem die CDU und die Grünen profitieren. Seine Forschung ergab, dass viele CDU-Wähler eine große Verpflichtung gegenüber dem Wählen empfinden. „Viele CDU-Anhänger wollen unbedingt ihrer Bürgerpflicht nachkommen, wenn sie also wegen Krankheit oder Pandemie nicht zur Urne gehen können, nutzen sie die Briefwahlen“, sagt Jun.
Dieses Pflichtbewusstsein sei beispielsweise bei älteren SPD-Anhängern weniger stark zu finden. In seinen Wähler-Umfragen fand Jun heraus, dass viele SPD-Wähler die Briefwahl als bürokratischen Aufwand empfinden. Dort sei die Stimmung
verbreitet: Wenn ich verhindert bin, dann wähle ich halt mal nicht.
Bei einem großen Anteil der Grünen-Wähler stelle sich das wiederum anders dar. „Die sind häufig höher gebildet und politisch interessiert“, erklärt Jun. Viele Grünen-Wähler haben klare politische Interessen und wollen diese mit ihrer Stimme unbedingt unterstützen. Diese Wähler greifen daher schneller zur Briefwahl, falls sie den Urnengang nicht antreten können oder wollen. Ähnlich verhält sich ein großer Anteil der FDP-Anhänger. Von einem Anstieg der Briefwähler im Land könnten also die Grünen und die FDP profitieren.
Das Gegenteil zeigt sich laut Jun bei den Wählern der AfD. Ein großer
Teil der AfD-Wähler hat kein besonderes Interesse an Politik und kaum konkrete Vorstellungen. Und: Viele AfD-Wähler planen ihre Stimme nicht im Voraus, sondern entscheiden sich eher kurzfristig beim Urnengang. Ähnlich bei Linken-Wählern, „obwohl es eine Diskrepanz gibt zwischen dem ländlichen Raum und Studentenstädten, wo politisch Interessierte mit klaren Vorstellungen die Linke wählen.“
Ob bestimmte Parteien tatsächliche Vorteile aus dem BriefwahlBoom ziehen können, und andere darunter leiden – das kann nach Ansicht von Ulrich Eith nicht wirklich vorhergesagt werden. Der Wissenschaftler am Institut für politische Bildung Baden-Württemberg glaubt nicht, dass ein höherer Anteil der
Briefwahlstimmen das Wahlergebnis deutlich beeinflusst.
Auf die Wahlbeteiligung wird sich die hohe Zahl der Briefwähler derweil kaum auswirken, meinen mehrere Stadtverwaltungen. „Die Briefwahl hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, jedoch ist regelmäßig die Wahlbeteiligung nicht im gleichen Umfang gestiegen“, heißt es beispielsweise aus dem Rathaus in Friedrichshafen.
Eine hohe Wahlbeteiligung hänge stärker mit anderen Faktoren zusammen, sagt auch Ulrich Eith: „Viel motivierender auf die Wähler wirkt beispielsweise ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Kandidaten.“
Die Stadt Konstanz könnte Beispiel dafür sein, dass ein Anstieg der Briefwähler durchaus ein Hinweis für eine insgesamt höhere Wahlbeteiligung sein kann. Wegen der Corona-Krise verschickte die Stadt bei der Oberbürgermeister-Wahl im Oktober 2020 Briefwahlunterlagen automatisch und ohne Antrag an alle Wahlberechtigten.
Auch bat sie ausdrücklich darum, per Brief abzustimmen, weil dies nicht nur die Wähler, sondern auch die Wahlhelfer schütze. „Am Ende wählten 97 Prozent per Brief“, sagt eine Mitarbeiterin im Rathaus. Die Wahlbeteiligung beim zweiten Wahlgang lag bei 61,4 Prozent – das ist die höchste seit 1980.
Die Grünen und die baden-württembergischen Kommunen hatten im November noch versucht, die Hürden für die Briefwahl nach Vorbild des Konstanzer Modells zu erleichtern. Eine entsprechende Änderung des Landtagswahlgesetzes scheiterte aber am Widerstand der CDU-Fraktion. Die hatte verfassungsrechtliche Bedenken: Denn die Wahl muss geheim und frei sein, bei der Stimmabgabe in den eigenen vier Wänden fehle die öffentliche Kontrolle.
„Der Gesetzgeber kann nicht überprüfen, wer den Stimmzettel ausfüllt“, gibt auch Uwe Jun zu bedenken. Trotz der niedrigeren Zugangshürde, auch Ulrich Eith findet das Konstanzer Modell bei Landtagsund Bundestagswahlen „nicht notwendig“. Denn auch Pannen sind dabei nicht auszuschließen: Wegen eines Problems oder Fehlers beim Drucken haben mindestens 880 Wählerinnen und Wähler die Unterlagen für die Landtagswahl gleich zweifach erhalten. Die betroffenen Gemeinden im Südwesten haben sich ljedoch laut Landeswahlleiterin bereits darum gekümmert und den zweiten der doppelten Wahlscheine offiziell für ungültig erklärt.