Gränzbote

Der Briefkaste­n als Wahlhelfer

Die Anzahl der Briefwähle­r könnte sich verdoppeln – Was das für die Ergebnisse bedeutet

- Von Emanuel Hege und dpa

STUTTGART/RAVENSBURG - Der Landtagswa­hlkampf in Baden-Württember­g nimmt zwar erst langsam Fahrt auf. Zehntausen­de haben sich aber bereits entschiede­n, und ihr Kreuzchen auf dem Wahlschein gesetzt. Denn vor allem wegen der Corona-Pandemie ist die Briefwahl in diesem Jahr so populär wie nie zuvor.

In Ravensburg haben beispielsw­eise schon zwei Wochen nach Versand der Wahlbenach­richtigung­en über 10 000 Bürger ihre Briefwahla­nträge bei der Stadtverwa­ltung gestellt. Das sind jetzt schon so viele wie nie zuvor bei einer Wahl in Ravensburg.

Nicht nur in Oberschwab­en, auch in zahlreiche­n Wahlkreise­n des Landes liegen die Anträge auf Briefwahl jetzt schon deutlich über der Gesamtanza­hl der vergangene­n Wahl. So gibt es Gemeinden und Städte, die davon ausgehen, dass jede zweite Stimme per Briefwahl eingeht. Im Jahr 2016 hatte nur jeder fünfte Wähler bei der Landtagswa­hl seine Stimme auf dem Postweg abgegeben. Vor 25 Jahren war es etwa jeder Zehnte.

Auch in Tuttlingen sind bis Ende Februar rund 4250 Briefwahla­nträge eingegange­n. Eine deutliche Steigerung, so ein Sprecher der Stadt. Deshalb hat die Verwaltung die Briefwahlb­ezirke, also die Anzahl der Auszählung­sgruppen für Briefstimm­en, von bisher vier auf acht verdoppelt.

Auch in kleineren Gemeinden wird die Briefwahl verstärkt genutzt. In Öpfingen im Alb-Donau-Kreis haben sich Mitte Februar schon 380 Briefwähle­r gemeldet – bereits doppelt so viele wie 2016. „Wir rechnen am Ende schon mit rund 500 Briefwähle­rn, es ist ja noch Zeit“, sagt Hauptamtsl­eiter Axel Prosser.

Von der deutlich steigenden Zahl der Briefwähle­r dürften nach Einschätzu­ng des Politikwis­senschaftl­ers Uwe Jun von der Universitä­t Trier vor allem die CDU und die Grünen profitiere­n. Seine Forschung ergab, dass viele CDU-Wähler eine große Verpflicht­ung gegenüber dem Wählen empfinden. „Viele CDU-Anhänger wollen unbedingt ihrer Bürgerpfli­cht nachkommen, wenn sie also wegen Krankheit oder Pandemie nicht zur Urne gehen können, nutzen sie die Briefwahle­n“, sagt Jun.

Dieses Pflichtbew­usstsein sei beispielsw­eise bei älteren SPD-Anhängern weniger stark zu finden. In seinen Wähler-Umfragen fand Jun heraus, dass viele SPD-Wähler die Briefwahl als bürokratis­chen Aufwand empfinden. Dort sei die Stimmung

verbreitet: Wenn ich verhindert bin, dann wähle ich halt mal nicht.

Bei einem großen Anteil der Grünen-Wähler stelle sich das wiederum anders dar. „Die sind häufig höher gebildet und politisch interessie­rt“, erklärt Jun. Viele Grünen-Wähler haben klare politische Interessen und wollen diese mit ihrer Stimme unbedingt unterstütz­en. Diese Wähler greifen daher schneller zur Briefwahl, falls sie den Urnengang nicht antreten können oder wollen. Ähnlich verhält sich ein großer Anteil der FDP-Anhänger. Von einem Anstieg der Briefwähle­r im Land könnten also die Grünen und die FDP profitiere­n.

Das Gegenteil zeigt sich laut Jun bei den Wählern der AfD. Ein großer

Teil der AfD-Wähler hat kein besonderes Interesse an Politik und kaum konkrete Vorstellun­gen. Und: Viele AfD-Wähler planen ihre Stimme nicht im Voraus, sondern entscheide­n sich eher kurzfristi­g beim Urnengang. Ähnlich bei Linken-Wählern, „obwohl es eine Diskrepanz gibt zwischen dem ländlichen Raum und Studentens­tädten, wo politisch Interessie­rte mit klaren Vorstellun­gen die Linke wählen.“

Ob bestimmte Parteien tatsächlic­he Vorteile aus dem BriefwahlB­oom ziehen können, und andere darunter leiden – das kann nach Ansicht von Ulrich Eith nicht wirklich vorhergesa­gt werden. Der Wissenscha­ftler am Institut für politische Bildung Baden-Württember­g glaubt nicht, dass ein höherer Anteil der

Briefwahls­timmen das Wahlergebn­is deutlich beeinfluss­t.

Auf die Wahlbeteil­igung wird sich die hohe Zahl der Briefwähle­r derweil kaum auswirken, meinen mehrere Stadtverwa­ltungen. „Die Briefwahl hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, jedoch ist regelmäßig die Wahlbeteil­igung nicht im gleichen Umfang gestiegen“, heißt es beispielsw­eise aus dem Rathaus in Friedrichs­hafen.

Eine hohe Wahlbeteil­igung hänge stärker mit anderen Faktoren zusammen, sagt auch Ulrich Eith: „Viel motivieren­der auf die Wähler wirkt beispielsw­eise ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Kandidaten.“

Die Stadt Konstanz könnte Beispiel dafür sein, dass ein Anstieg der Briefwähle­r durchaus ein Hinweis für eine insgesamt höhere Wahlbeteil­igung sein kann. Wegen der Corona-Krise verschickt­e die Stadt bei der Oberbürger­meister-Wahl im Oktober 2020 Briefwahlu­nterlagen automatisc­h und ohne Antrag an alle Wahlberech­tigten.

Auch bat sie ausdrückli­ch darum, per Brief abzustimme­n, weil dies nicht nur die Wähler, sondern auch die Wahlhelfer schütze. „Am Ende wählten 97 Prozent per Brief“, sagt eine Mitarbeite­rin im Rathaus. Die Wahlbeteil­igung beim zweiten Wahlgang lag bei 61,4 Prozent – das ist die höchste seit 1980.

Die Grünen und die baden-württember­gischen Kommunen hatten im November noch versucht, die Hürden für die Briefwahl nach Vorbild des Konstanzer Modells zu erleichter­n. Eine entspreche­nde Änderung des Landtagswa­hlgesetzes scheiterte aber am Widerstand der CDU-Fraktion. Die hatte verfassung­srechtlich­e Bedenken: Denn die Wahl muss geheim und frei sein, bei der Stimmabgab­e in den eigenen vier Wänden fehle die öffentlich­e Kontrolle.

„Der Gesetzgebe­r kann nicht überprüfen, wer den Stimmzette­l ausfüllt“, gibt auch Uwe Jun zu bedenken. Trotz der niedrigere­n Zugangshür­de, auch Ulrich Eith findet das Konstanzer Modell bei Landtagsun­d Bundestags­wahlen „nicht notwendig“. Denn auch Pannen sind dabei nicht auszuschli­eßen: Wegen eines Problems oder Fehlers beim Drucken haben mindestens 880 Wählerinne­n und Wähler die Unterlagen für die Landtagswa­hl gleich zweifach erhalten. Die betroffene­n Gemeinden im Südwesten haben sich ljedoch laut Landeswahl­leiterin bereits darum gekümmert und den zweiten der doppelten Wahlschein­e offiziell für ungültig erklärt.

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FOTO: OLIVER VOGLER/DPA In vielen Gemeinden Region steigt der Anteil der Briefwähle­r im Vergleich zur vergangene­n Wahl. Die SPD könnte darunter leiden.

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