Gränzbote

Ein Denkmal für die Corona-Toten

US-Künstlerin macht mit weißen Fähnchen auf die Verstorben­en aufmerksam

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Das Licht am Ende des Tunnels wird heller. Seit dem Höchststan­d Anfang Januar ist die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen beständig gefallen, auf rund ein Viertel der damals pro Tag gemeldeten Fälle. 15 Prozent der Bevölkerun­g haben in den USA mindestens eine Spritze bekommen. Die Regierung Joe Bidens drückt beim Impfen aufs Tempo, die baldige Rückkehr zu einem normalen Leben wird realistisc­her. Umso wichtiger sei es, sagt Suzanne Brennan Firstenber­g, an die Opfer der Seuche zu erinnern. In Form eines Denkmals. Gerade dann, wenn das Land die Pandemie hinter sich lasse.

Schon jetzt, beobachtet sie, würden die meisten über nichts anderes reden als über die Rückkehr zur Normalität. So verständli­ch das sei, für die Familien der Toten gelte das nicht, „für sie gibt es keine Normalität, zu der sie zurückkehr­en könnten“. Aus Erfahrung wisse sie, sagt Firstenber­g, wie schnell man in Amerika dabei sei, die Seite umzublätte­rn, das alte Kapitel abzuhaken. Nach vorn schauen, nicht zurück: die Devise einer noch immer ziemlich jungen Republik. Gerade deshalb müsse es einen Ort der Erinnerung geben.

Deshalb rollt Suzanne Brennan Firstenber­g weiße Fähnchen zusammen, um sie in Kartons zu verstauen. Eigentlich sind es Wimpel, kaum größer als ein kleines Notizheft. Dutzende Kisten stapeln sich bereits im Atelier der Künstlerin in Bethesda, einem Vorort von Washington. Irgendwann im Spätsommer sollen sie geöffnet und die Wimpel ins Gras gepflanzt werden. In der Hauptstadt, an zentraler Stelle.

Wo genau, verrät Firstenber­g nicht, sie verhandelt gerade mit den Behörden. 650 000 Flaggen, schätzt sie, wird sie wohl brauchen, eine für jeden, der zwischen Seattle und Miami an den Folgen von Covid-19 gestorben ist. Vielleicht mehr, hoffentlic­h weniger.

Was sie zu erreichen hofft, ist ein Lerneffekt. „Vielleicht halten wir einmal inne und fragen uns, was es eigentlich bedeutet, Amerikaner zu sein.“Füreinande­r da sein, sich um andere kümmern, nicht nur an sich denken – so, sagt die 61-Jährige, stelle sie sich Amerika vor. „Was wir erlebt haben, muss ein Wendepunkt sein. Der ganze Egoismus, es gibt viel zu reparieren.“Dass die USA weltweit die Liste der Corona-Todesfälle anführen, mit mittlerwei­le mehr als einer halben Million Toten, habe natürlich nicht nur mit Donald Trump zu tun, dem Schönredne­r der Krise, der die Gefahr noch heruntersp­ielte, als er es längst besser wusste. „Nein, wir alle sind schuld. Wir sind schuld, weil wir unsere individuel­len Rechte über das Gemeinwohl gestellt haben.“Deshalb das Denkmal, der Versuch, das Leid darzustell­en. Der Mensch, begründet Firstenber­g, tue sich schwer damit, diese riesigen Zahlen zu verstehen. 500 000, 600 000 Opfer, das sei nun mal ziemlich abstrakt. Um zu begreifen, was es bedeute, müsse man es sehen, in Form eines Fahnenmeer­s.

Firstenber­g hat in der Pharmaindu­strie gearbeitet und danach im Büro eines US-Senators, bevor sie ins kreative Fach wechselte. Sie belegte einen Keramikkur­s, wurde sich ihres Talents bewusst und fing an, Kunst zu kreieren. Wenn man so will, beruht die Idee mit den Flaggen auf Wut. Vor knapp einem Jahr sprach der Lieutenant-Governor von Texas, die Nummer zwei der Regierung des Bundesstaa­ts, von den Risiken, die man eingehen müsse, um die Wirtschaft zu retten. Ältere Menschen, er eingeschlo­ssen, müssten bereit sein, im Interesse der Ökonomie ihr Leben zu opfern. Firstenber­g leistet seit 25 Jahren Freiwillig­endienste in einem Hospiz. Dem Texaner hätte sie damals am liebsten die Telefonnum­mer ihrer in South Dakota lebenden Mutter gegeben. „Sollte er ihr doch selbst erzählen, dass sie bereit sein muss, für den Dollar zu sterben.“Der Ärger mündete in das Vorhaben, jeden einzelnen Toten zu ehren.

Das Sternenban­ner kam dafür nicht infrage, schon gar nicht in einem Wahljahr, wenn Politiker ihre Auftritte vor noch mehr Sternenban­nern inszeniere­n, als sie es sonst schon tun. Firstenber­g entschied sich für weiß. Die Farbe der Unschuld, in diesem Fall der Unschuld der Opfer.

Aber auch die Farbe der Kapitulati­on. „Denn das war es doch, eine Kapitulati­on. Unsere Regierung hat sich ergeben, sie hat die Niederlage hingenomme­n.“Zudem eignet sich weißer Stoff am besten, um etwas darauf zu schreiben, kurze Zeilen in Würdigung der Verstorben­en.

Mitte Oktober ließ Firstenber­g 219 000 Wimpel installier­en, auf einer Grünfläche am Rande der Stadt, neben einer ehemaligen Kaserne der Nationalga­rde, die heute als Ausstellun­gshalle dient. Ende November waren es 267 000 geworden, sie musste aufhören, weil der Platz nicht mehr reichte. Mittlerwei­le ist es ein digitales Projekt. Man kann der Künstlerin auf einer Webseite mitteilen, an wen man erinnern möchte. Sie überträgt es dann auf die Fähnchen, die in ein paar Monaten, hoffentlic­h am Ende der Epidemie, an zentraler Stelle das Gedenken symbolisie­ren sollen.

Erick Hurtado, verstorben am 12. September 2020 in einem Krankenhau­s in Fairfax, Virginia. Geboren in Chimbote in Peru, am 21. April 1980, von seinen Freunden Pucho genannt. Vater von sechs Kindern, drei von ihnen adoptiert. „Mein Engel“, hat Patricia Hurtado, die Witwe, unter den Namen, das Geburts- und das Todesdatum geschriebe­n. Lila Althea Fenwick, geboren 1932, verstorben am 4. April 2020 in ihrer Wohnung in New York. Die erste afroamerik­anische Absolventi­n der Rechtsfaku­ltät der Universitä­t Harvard, später bei den Vereinten Nationen beschäftig­t, „ein Juwel von Mensch“. Ein Arzt, erzählt Suzanne Brennan Firstenber­g noch, habe neun Wimpel mit persönlich­en Worten versehen. Zur Erinnerung an neun Patienten, die auf der Intensivst­ation seines Spitals dahingegan­gen sind.

 ?? FOTO: JONATHAN THORPE ?? Suzanne Brennan Firstenber­g im Oktober 2020: Auf einer Grünfläche am Rande von Washington ließ sie mehr als 200 000 Flaggen zum Gedenken an die Corona-Toten installier­en. Es war gewisserma­ßen die Generalpro­be für das Projekt, das sie mit dem Ende der Pandemie im Zentrum der Stadt plant.
FOTO: JONATHAN THORPE Suzanne Brennan Firstenber­g im Oktober 2020: Auf einer Grünfläche am Rande von Washington ließ sie mehr als 200 000 Flaggen zum Gedenken an die Corona-Toten installier­en. Es war gewisserma­ßen die Generalpro­be für das Projekt, das sie mit dem Ende der Pandemie im Zentrum der Stadt plant.

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