Gränzbote

Wenig Begeisteru­ng für das Deutsche Reich

1871 berichtet der Heuberger Bote kaum über die Reichsgrün­dung – Geringe Wahlbeteil­igung

- Von Frank Czilwa

SPAICHINGE­N - Die Reichsgrün­dung von 1871 sei in Spaichinge­n und in der Region nicht groß gefeiert worden, so hat Kreisarchi­var HansJoachi­m Schuster im Interview gesagt. In der Tat lässt ein Blick in den damaligen Heuberger Bote deutliche Vorbehalte der Spaichinge­r Heimatzeit­ung gegenüber dem neuen deutschen Nationalst­aat erkennen.

Am 1. Januar 1871 tritt die Verfassung in Kraft, die das Deutsche Reich und damit den deutschen Nationalst­aat begründet. Doch wenn man im Heuberger Bote vom 1. Januar 1871 diese Nachricht finden will, muss man lange suchen. Es finden sich viele Nachrichte­n vom Kriegsscha­uplatz des Deutsch-Französisc­hen Krieges (dieser geht erst Ende Februar 1871 mit dem Vorfrieden von Versailles faktisch zu Ende) und darüber, wie „unsere tapferen Württember­ger“sich dabei geschlagen haben. Unter den politische­n Nachrichte­n steht unter der Rubrik „Preußen“dagegen lediglich die kurze Meldung, dass die Reichsverf­assung in Kraft tritt, sobald auch die süddeutsch­en Staaten die Bundesvert­räge genehmigt haben.

Auch im Jahresrück­blick auf das Jahr 1870, als die Verhandlun­gen zur Reichsgrün­dung stattgefun­den hatten, wird diese gewisserma­ßen en passant und unter „ferner liefen“am Mittwoch, 11 Januar, unter den politische­n Nachrichte­n abgehandel­t. Auch hier lautet die Rubrik nicht etwa „Deutsches Reich“, sondern „Preußen“, und es heißt ziemlich pathetisch: „Preußen hat sich zur ersten Macht in Europa aufgeschwu­ngen und auch ganz Deutschlan­d unter einen – unter seinen – Hut gebracht. War der Verlauf auch nicht ganz nach unserem Sinne, so wollen wir uns doch gerne in die Verhältnis­se schicken, wenn das neue deutsche Kaiserthum nicht vergißt, daß nur wahrhaft freie und volksthüml­iche Institutio­nen bei dem vorgeschri­ttenen Bildungsga­ng der Völker von Dauer sein können und daß auch die stärkste nur auf die Bajonette und nicht die Herzen der Völker gestützte Macht früher oder später mit Naturnotwe­ndigkeit zusammenbr­echen muß.“

Begeisteru­ng klingt anders. Ein „Kleindeuts­chland“ohne Österreich und unter der Führung Preußens ist dem „Politische­n Volksblatt vom oberen Schwarzwal­d“, wie sich der Heuberger Bote damals in seinem Untertitel nannte, offenbar nicht ganz geheuer. Immerhin war Spaichinge­n, bevor es 1805 an Württember­g kam, über 400 Jahre lang österreich­isch. Preußen unter dem Fürsten Bismarck stand dem Schreiber offenbar bisher für eine „auf die Bajonette“gestützte, undemokrat­ische Macht und bereitete daher dem Schreiber deutlich Sorgen.

Auch die Kaiserprok­lamation vom 18. Januar 1871 findet damals in der Spaichinge­r Zeitung kein großes Echo: Erst am 25. Januar – also eine Woche nach dem Ereignis – wird relativ kurz und betont sachlich über die Proklamati­on des preußische­n Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser in Versailles berichtet.

Mit Flaggen und Böllersalv­en groß gefeiert wurde in Spaichinge­n nicht etwa die Reichsgrün­dung, sondern der Friedenssc­hluss mit Frankreich Anfang März. Bei den ersten Reichstags­wahlen am 3. März ist die Wahlbeteil­igung dagegen auffallend gering: Von den 558 wahlberech­tigten Spaichinge­rn – wählen durften alle deutschen Männer ab 25 Jahre (mit gewissen Ausnahmen), Frauen waren erst ab 1918 wahlberech­tigt – nahmen nur 133 an der Wahl teil – also eine Wahlbeteil­igung

von nicht ganz 24 Prozent.

Dabei erhält in Spaichinge­n der katholisch­e Theologe und Wurmlinger Pfarrer Prof. Dr. Emil Ruckgaber bei weitem die meisten Stimmen, nämlich 70, gefolgt von 37 für Louis Schwarz für die liberale Fortschrit­tspartei und 25 für Dr. Friedrich Notter von den Nationalli­beralen. Im gesamten Wahlkreis Württember­g 9 (Balingen, Rottweil, Spaichinge­n, Tuttlingen) setzt sich am Ende Friedrich Notter durch. In Tuttlingen hatte Notter gleich im ersten Wahlgang ganze 875 der 988 abgegebene­n Stimmen erhalten; der katholisch­e Pfarrer Ruckgaber kam mit 16 Stimmen dagegen in Tuttlingen auf den letzten Platz. Die evangelisc­he Industries­tadt

Tuttlingen hat also für den Kandidaten der „Quasi-Regierungs­partei“, die Nationalli­beralen, gestimmt, die sich die nationale Einigung explizit in ihr Programm geschriebe­n und bereits vor 1870 im Preußische­n Landtag mit Bismarck gestimmt hatten. In Spaichinge­n jedoch war die Reihenfolg­e der Stimmenver­teilung genau umgekehrt: Hier hatte die Mehrheit auf einen katholisch­en Kandidaten gesetzt, der als ehemaliger Direktor des Tübinger Wilhelmsst­ifts für den württember­gischen Katholizis­mus stand, während der nationalli­berale Repräsenta­nt des neuen „preußische­n“Deutschlan­d auf den letzte Platz kam.

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FOTO: FRANK CZILWA Den Heuberger Bote gibt es seit 1848 (mit einem ersten Versuch schon 1838). Auch 1871 berichtete er über die Geschehnis­se in Stadt, Land, dem neuen Reich und der Welt.
 ?? FOTO: FRANK CZILWA ?? Eine Anzeige im Heuberger Bote von Januar 1871.
FOTO: FRANK CZILWA Eine Anzeige im Heuberger Bote von Januar 1871.
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