Bitte mehr Pragmatismus
Nach über einem Jahr Pandemie ist mit dem Wissen von heute die Kritik an den Anti-Corona-Beschlüssen der vergangenen Monate von EU, Bund und Ländern billig und platt. Dennoch muss zugestanden werden: Es geht zu langsam, die Impfstoffbeschaffung, das allgemeine Impfmanagement muss gehörig an Tempo zulegen. Wenn es so weitergeht, dann haben wir im April genügend Impfstoff, aber immer noch viel zu wenige Impfungen.
Hin und wieder kann ein Blick über die Grenzen helfen. Die USA und Großbritannien standen zu Beginn der Epidemie international am Pranger, heute liegen sie weit vorne. Selbst vorsichtige Prognosen gehen davon aus, dass bis Ende Juli alle Erwachsenen im Vereinigten Königreich geimpft sein werden. Hierzulande ist das wenig wahrscheinlich, solange der Bundesgesundheitsminister davon spricht, dass es in „wenigen Tagen“eine Empfehlung für Ältere für das lediglich in Deutschland umstrittene Vakzin von AstraZeneca geben wird. Dass dieser Impfstoff hervorragend ist und dass sich vielerorts die Dosen wegen übertriebener Bedenken stapeln, wissen wir seit langer Zeit.
Natürlich war es richtig, dass sich Ständige Impfkommission und Ethikrat bei der Priorisierung der Impfungen an den Infektionsrisiken einzelner Gruppen orientierten. Nur in Kürze wird es keinen Mangel beim Impfstoff mehr geben. Die rechtlich bindende Impfreihenfolge muss einer Empfehlung weichen. Deshalb sollte die Republik entgegen ihrer lieb gewonnenen Regelungswut mehr Pragmatismus wagen. Hausärzte, Betriebsärzte und Schulärzte müssen impfen können. Und ja – wie in anderen Staaten auch – sollte auch außerhalb der Impfzentren, etwa in Apotheken, die Leben schützende Spritze verabreicht werden dürfen. Wenn Astra-Zeneca am Nachmittag irgendwo droht, übrig zu bleiben, dann sollten die die Dosis bekommen, die sie auch wollen. Egal, wie alt sie sind, egal welcher Berufsgruppe sie angehören. Auf den ersten Blick leidet die Gerechtigkeit. Auf den zweiten nimmt die physische Sicherheit Einzelner zu. Gut für alle.