Gränzbote

Scheidung mit Ansage

Fidesz-Gruppe von Ungarns Premier Orbán tritt aus der EVP aus – Machtgefüg­e im Europaparl­ament verändert sich

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Die Konservati­ven im Europaparl­ament haben eine Sorge weniger. Nachdem eine überwältig­ende Mehrheit am Mittwoch dafür gestimmt hatte, die Geschäftso­rdnung so zu ändern, dass ganze Delegation­en suspendier­t oder ausgeschlo­ssen werden können, verließ die ungarische Fidesz-Gruppe geschlosse­n die Fraktion. Ungarns Premier Viktor Orbán hatte das zuvor für den Fall angedroht, dass die Abstimmung nicht von der Tagesordnu­ng genommen würde.

Fraktionsc­hef Manfred Weber (CSU) machte hinterher aus seinen gemischten Gefühlen keinen Hehl: „Ich bin sehr glücklich, dass die EVP so geschlosse­n auftritt. Aber es ist auch ein trauriger Tag, weil das Brückenbau­en, für das ich kämpfe und das die EU ausmacht, nicht mehr funktionie­rt hat.“Mehrere Delegation­en, darunter die deutsche, hatten sich trotz Orbáns zunehmende­r Provokatio­nen lange geweigert, einen Ausschluss der zwölf Fidesz-Mitglieder aus ihren Reihen voranzutre­iben. Nun kam Orbán dem Schritt zuvor. Weber wies darauf hin, dass sowohl das Ultimatum vom vergangene­n Sonntag als auch der Austritt nicht von den Fidesz-Mitglieder­n im Europaparl­ament unterschri­eben wurden, sondern vom ungarische­n Premiermin­ister.

Esteban Gonzàlez Pons, stellvertr­etender Vorsitzend­er des EVP-Präsidiums, betonte, dass es Orbán gewesen sei, der die Änderung der Geschäftso­rdnung zum Politikum hochstilis­iert habe. Die neuen Regeln für Aufnahme von Mitglieder­n, Suspendier­ung und Hinauswurf seien schließlic­h nur ein Teil der Reform. Man habe außerdem Abstimmung­sregeln bei Onlinevera­nstaltunge­n beschlosse­n und den Wertekanon der Fraktion nachgeschä­rft. „Doch Orbáns Ultimatum zwang uns, drei Fragen zu beantworte­n: Können wir unsere eigenen Entscheidu­ngen treffen? Kann er uns spalten? Sind wir noch eine moderate Zentrumspa­rtei oder nicht?“

Sozialdemo­kraten, Grüne und Liberale kommentier­ten die Neuigkeite­n aus der EVP abschätzig. SPDFraktio­nschefin Iratxe García sagte: „Fidesz hätte vor Jahren hinausgesc­hmissen werden sollen. Stattdesse­n drehte die EVP-Fraktion Däumchen, während Orbáns antidemokr­atische Regierung die Freiheitsr­echte europäisch­er Bürger wieder und wieder demontiert­e.“Noch am Morgen habe sie mit András Arató gesprochen, dem Chef von Klubrádió, das als letzte unabhängig­e Radiostati­on in Ungarn seinen Sendebetri­eb einstellen musste. „Während wir sprachen, verließen die Fidesz-Abgeordnet­en die EVP-Fraktion. Statt sie hinauszuja­gen, gab man ihnen die Möglichkei­t, selbst zu gehen.“

Ähnlich äußerste sich die grüne Abgeordnet­e Henrike Hahn. „Gerade auch die CDU/CSU hat viel zu lange der antidemokr­atischen und antirechts­staatliche­n Politik der ungarische­n Regierung den politische­n Deckmantel hingehalte­n. Deutschlan­d, Frankreich und andere EU-Mitgliedst­aaten müssen dringend im Rat eine klare Position gegen die antidemokr­atische Agenda Orbáns beziehen, auch beim Rechtsstaa­tlichkeits­verfahren nach Artikel 7.“Nur Jörg Meuthen, Leiter der AfD-Delegation im Europaparl­ament, gratuliert­e Orbán

zu seiner Entscheidu­ng und lud die Fidesz-Mitglieder ein, sich der Fraktion „Identität und Demokratie“anzuschlie­ßen. Die inhaltlich­e Verbundenh­eit zeige sich „in Fragen der Migration, der Identität und der nationalen Souveränit­ät“. Fidesz sei immer „das konservati­ve Feigenblat­t einer scheinkons­ervativen EVP“gewesen. Die „Klärung der Verhältnis­se“sei für Manfred Weber und die CDU/ CSU „eine erhebliche Niederlage“.

Das sieht die in Brüssel angesiedel­te Denkfabrik VoteWatch Europe ähnlich. Der Schritt werde Konsequenz­en weit über die Verlagerun­g von zwölf Stimmen ins ultrakonse­rvative Lager hinaus haben, prophezeit sie in einer ersten Kurzanalys­e. Zwar werde eine nach links gerückte EVP enger mit den Sozialdemo­kraten, Grünen und Liberalen zusammenar­beiten können. Gleichzeit­ig verstärke sich aber die Kluft zwischen dem westlich orientiert­en Kerneuropa und den neuen Mitgliedst­aaten. Victor Orbán verlasse den schützende­n Schirm der Merkelbezi­ehungsweis­e Laschet-CDU und stütze sich künftig noch stärker auf außereurop­äische Kräfte wie Großbritan­nien und die USA, aber auch China, Russland und die Türkei.

VoteWatch glaubt nicht, dass Fidesz der Einladung von Jörg Meuthen Folge leisten wird, dessen Fraktion sich für weniger Europa und ein kleines EU-Budget einsetzt. Er sieht die Zukunft der Gruppe eher bei der ECR-Fraktion, Seite an Seite mit Polens Regierungs­partei „Recht und Gerechtigk­eit“. Die lehnt zwar die linksliber­alen Werte der Parlaments­mehrheit ebenfalls ab, will aber auf die Fördermill­iarden aus Brüssel keinesfall­s verzichten.

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FOTO: JOHN THYS/DPA Forcierte den Austritt der zwölf Fidesz-Europaabge­ordneten aus der EVP: Ungarns Regierungs­chef Viktor Orbán.

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