Scheidung mit Ansage
Fidesz-Gruppe von Ungarns Premier Orbán tritt aus der EVP aus – Machtgefüge im Europaparlament verändert sich
BRÜSSEL - Die Konservativen im Europaparlament haben eine Sorge weniger. Nachdem eine überwältigende Mehrheit am Mittwoch dafür gestimmt hatte, die Geschäftsordnung so zu ändern, dass ganze Delegationen suspendiert oder ausgeschlossen werden können, verließ die ungarische Fidesz-Gruppe geschlossen die Fraktion. Ungarns Premier Viktor Orbán hatte das zuvor für den Fall angedroht, dass die Abstimmung nicht von der Tagesordnung genommen würde.
Fraktionschef Manfred Weber (CSU) machte hinterher aus seinen gemischten Gefühlen keinen Hehl: „Ich bin sehr glücklich, dass die EVP so geschlossen auftritt. Aber es ist auch ein trauriger Tag, weil das Brückenbauen, für das ich kämpfe und das die EU ausmacht, nicht mehr funktioniert hat.“Mehrere Delegationen, darunter die deutsche, hatten sich trotz Orbáns zunehmender Provokationen lange geweigert, einen Ausschluss der zwölf Fidesz-Mitglieder aus ihren Reihen voranzutreiben. Nun kam Orbán dem Schritt zuvor. Weber wies darauf hin, dass sowohl das Ultimatum vom vergangenen Sonntag als auch der Austritt nicht von den Fidesz-Mitgliedern im Europaparlament unterschrieben wurden, sondern vom ungarischen Premierminister.
Esteban Gonzàlez Pons, stellvertretender Vorsitzender des EVP-Präsidiums, betonte, dass es Orbán gewesen sei, der die Änderung der Geschäftsordnung zum Politikum hochstilisiert habe. Die neuen Regeln für Aufnahme von Mitgliedern, Suspendierung und Hinauswurf seien schließlich nur ein Teil der Reform. Man habe außerdem Abstimmungsregeln bei Onlineveranstaltungen beschlossen und den Wertekanon der Fraktion nachgeschärft. „Doch Orbáns Ultimatum zwang uns, drei Fragen zu beantworten: Können wir unsere eigenen Entscheidungen treffen? Kann er uns spalten? Sind wir noch eine moderate Zentrumspartei oder nicht?“
Sozialdemokraten, Grüne und Liberale kommentierten die Neuigkeiten aus der EVP abschätzig. SPDFraktionschefin Iratxe García sagte: „Fidesz hätte vor Jahren hinausgeschmissen werden sollen. Stattdessen drehte die EVP-Fraktion Däumchen, während Orbáns antidemokratische Regierung die Freiheitsrechte europäischer Bürger wieder und wieder demontierte.“Noch am Morgen habe sie mit András Arató gesprochen, dem Chef von Klubrádió, das als letzte unabhängige Radiostation in Ungarn seinen Sendebetrieb einstellen musste. „Während wir sprachen, verließen die Fidesz-Abgeordneten die EVP-Fraktion. Statt sie hinauszujagen, gab man ihnen die Möglichkeit, selbst zu gehen.“
Ähnlich äußerste sich die grüne Abgeordnete Henrike Hahn. „Gerade auch die CDU/CSU hat viel zu lange der antidemokratischen und antirechtsstaatlichen Politik der ungarischen Regierung den politischen Deckmantel hingehalten. Deutschland, Frankreich und andere EU-Mitgliedstaaten müssen dringend im Rat eine klare Position gegen die antidemokratische Agenda Orbáns beziehen, auch beim Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7.“Nur Jörg Meuthen, Leiter der AfD-Delegation im Europaparlament, gratulierte Orbán
zu seiner Entscheidung und lud die Fidesz-Mitglieder ein, sich der Fraktion „Identität und Demokratie“anzuschließen. Die inhaltliche Verbundenheit zeige sich „in Fragen der Migration, der Identität und der nationalen Souveränität“. Fidesz sei immer „das konservative Feigenblatt einer scheinkonservativen EVP“gewesen. Die „Klärung der Verhältnisse“sei für Manfred Weber und die CDU/ CSU „eine erhebliche Niederlage“.
Das sieht die in Brüssel angesiedelte Denkfabrik VoteWatch Europe ähnlich. Der Schritt werde Konsequenzen weit über die Verlagerung von zwölf Stimmen ins ultrakonservative Lager hinaus haben, prophezeit sie in einer ersten Kurzanalyse. Zwar werde eine nach links gerückte EVP enger mit den Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen zusammenarbeiten können. Gleichzeitig verstärke sich aber die Kluft zwischen dem westlich orientierten Kerneuropa und den neuen Mitgliedstaaten. Victor Orbán verlasse den schützenden Schirm der Merkelbeziehungsweise Laschet-CDU und stütze sich künftig noch stärker auf außereuropäische Kräfte wie Großbritannien und die USA, aber auch China, Russland und die Türkei.
VoteWatch glaubt nicht, dass Fidesz der Einladung von Jörg Meuthen Folge leisten wird, dessen Fraktion sich für weniger Europa und ein kleines EU-Budget einsetzt. Er sieht die Zukunft der Gruppe eher bei der ECR-Fraktion, Seite an Seite mit Polens Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“. Die lehnt zwar die linksliberalen Werte der Parlamentsmehrheit ebenfalls ab, will aber auf die Fördermilliarden aus Brüssel keinesfalls verzichten.