Jederzeit und überall verfolgt
Ein Stalking-Opfer berichtet über seinen Alltag – Ein Leben in ständiger Wachsamkeit
TUTTLINGEN - Seit drei Jahren schaut sich Lukas R. (Name von der Redaktion geändert) regelmäßig um, ist viel wachsamer als früher. Er will vorbereitet sein, vorbereitet darauf, dass der Stalker wieder vor ihm steht. Eine Lebenssituation, die an den Nerven zerrt.
„Bis vor drei Jahren habe ich mich mit dem Thema Stalking nicht beschäftigt“, sagt Lukas R.. Er hat sich an unsere Redaktion gewandt, um das Thema aus der Tabu-Zone zu holen. Erkannt werden möchte er nicht. Zu groß ist die Befürchtung, dass dann alles noch schlimmer wird. Als er seine jetzige Lebensgefährtin kennenlernte, fing es an. Sie hatte sich kurz davor von ihrem Mann getrennt. „Das hat er nicht akzeptiert“, erzählt Lukas R.. Er sei ständig dort aufgetaucht, wo sie waren. In der Stadt, auf dem Parkplatz der Firma, wo er arbeitet, seit einiger Zeit auch vor seinem Wohnsitz, sogar während des Autofahrens. „Er hat offenbar das Auto über das digitale Fahrtenbuch getrackt“, sagt Lukas R. und schüttelt den Kopf. „Ich wüsste gar nicht, wie das geht.“Dazu kamen anonyme Anrufe, auf dem Festnetz, dem Handy – privat und geschäftlich. „Er hat uns völlig irre Nachrichten auf den Anrufbeantworter gesprochen“, sagt Lukas R. und lacht nervös. Kurze Zeit später zog der ExMann in die unmittelbare Nachbarschaft.
Für Wolfgang Schoch vom Weißen Ring Tuttlingen ist das der Klassiker. „In den allermeisten Fällen besteht zwischen dem Stalker und dem Opfer eine persönliche Beziehung.“Meistens werde das Ende eben jener nicht akzeptiert. „Das sind absolute Egozentriker, die andere brauchen, um sich selbst wahrzunehmen.“Sie lebten in dem Wahn, dass sie sich mit der Kontrolle, der Macht über andere, selbst erhöhen. Für die Opfer sei das eine unglaubliche psychische Belastung.
Das kann Lukas R. bestätigen. Er wisse nie, wann wieder etwas passiere. Wann wieder der Reifen an seinem Auto platt sei, wieder die Post aus dem Briefkasten geholt wurde, wieder Patrouille am Haus vorbeigefahren wird. „Ich lasse auch im Auto nichts mehr liegen, keine Briefe, Pakete oder Dokumente, die ihm irgendeine Art von Information geben könnten.“Er lacht wieder, es klingt hilflos.
Erschwert wird die Situation bei Lukas R. und seiner Lebensgefährtin dadurch, dass sie sich das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder mit ihrem Ex-Mann teilt. „Ich schreibe ihren Kindern zum Beispiel keine Nachrichten mehr, weil ich weiß, dass er ihre Handys kontrolliert, er zieht sie in die ganze Sache mit rein.“Auch vermeiden er und seine Lebensgefährtin, dass Amazon- oder Netflix-Accounts auf den Geräten der Kinder benutzt werden, „damit er nicht an unsere Accounts und Passwörter kommt“, sagt Lukas R., der sich einfach nur wünscht, dass es aufhört.
Um das zu erreichen, rät Wolfgang Schoch den Opfern, zum einen Freunden, Familie und Arbeitskollegen vom Stalking zu erzählen, um nicht Gefahr zu laufen, isoliert zu werden. „Oftmals versuchen Stalker, den gemeinsamen Freundeskreis auf ihre Seite zu bringen, sich als Opfer darzustellen.“Nicht selten leide auch die Arbeitsleistung der Opfer angesichts der psychischen Belastung. Daher sei es ratsam, den Arbeitgeber zu informieren. „Stalking ist ein Massenphänomen.“Diesbezüglich habe sich in Sachen Sensibilisierung in den vergangenen Jahren einiges getan. Zum anderen sollten Opfer auf jeden Fall zur Polizei gehen und beispielsweise ein Näherungsverbot erwirken. „Oftmals hören die Attacken auf, wenn die Täter bemerken, dass das Opfer sich wehrt.“
Im konkreten Fall sei ein Annäherungsverbot allerdings „Unsinn“, da sich Täter und Opfer aufgrund des gemeinsamen Sorgerechts zwangsläufig absprechen müssen. Dennoch rät Schoch, juristischen Beistand zu suchen. Ein Anwalt könne in diesem Fall das große Ganze einschätzen.
Lukas R. will als nächstes auf jeden Fall zur Polizei gehen. Denn: „Man hat schon Angst, dass er einen Schritt weitergeht.“Dass irgendwann etwas passiert, das ein Anlass für den Stalker sei, „um durchzudrehen“, befürchtet Lukas R.. Wieder ein Lachen. „Wir versuchen, es irgendwie mit Humor zu nehmen.“Ganz scheint das nicht zu gelingen.
Michael Ilg, Kommissarischer Leiter Referat Prävention beim Polizeipräsidium Konstanz, kann dieses Vorgehen nur begrüßen. „Man sollte auf jeden Fall zur Polizei gehen und Strafanzeige erstatten.“Die Opfer sollten in jedem Fall ein Tagebuch führen, in dem sie alle Vorfälle festhalten, jeder unerwünschte Anruf, jedes Nachstellen, jeder Brief, jedes Geschenk. In ein solches Stalking-Tagebuch gehöre auch, ob es durch die Attacken zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen gekommen sei oder ob es Zeugen für die einzelnen Vorfälle
Wolfgang Schoch vom Weißen Ring
gebe.
„Das ist mittlerweile brandaktuell“, ordnet Ilg das Thema Stalking ein. Da Stalking seit ein paar Jahren aber einen eigenen Straftatbestand darstellt, sei es für die Opfer leichter, sich zu wehren. Als erstes rät Ilg den Opfern ein Kontakt- und Näherungsverbot beim zuständigen Amtsgericht zu erwirken. Verstößt ein Stalker gegen dieses, kann er auch noch wegen des Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz belangt werden. Der Strafrahmen reiche dafür von einer Geldstrafe bis zu drei
Jahren Freiheitsstrafe. „Bei vielen Stalkern hört es auf, wenn das Opfer zur Polizei geht. Es zeigt, dass das Opfer ernst macht und sich nichts gefallen lässt.“
Für ebenso wichtig sieht Ilg es an, sich Fachleuten, beispielsweise bei einer
Beratungsstelle psychologischen oder einer Opferhilfseinrichtung wie dem Weißen Ring anzuvertrauen, um an den psychisch enorm belastenden Faktoren arbeiten zu können.
Für den Fall von Lukas R. sieht Ilg die Komplikation darin, dass „Kinder mit im Spiel sind“. Dann müsse man auf die Kontakte schauen, die über die zur Abstimmung notwendigen Absprachen hinausgehen. „Das ist natürlich schwieriger, wie wenn Opfer und Täter keinerlei Berührungspunkte haben, dennoch muss es auch in diesem Fall eine maßgeschneiderte Lösung geben.“
„Das sind absolute Egozentriker, die andere brauchen, um sich selbst wahrzunehmen.“