Der Coaching-Boom
Für alle Lebenslagen gibt es heute Berater – Schlecht muss das nicht sein, trotzdem lauern Gefahren – Besuch bei der früheren Skirennläuferin Christel Joy Kluth
- Die Vergangenheit nimmt bei Christel Joy Kluth nur eine kleine Ecke in ihrem Haus in der Ravensburger Weststadt ein. Zwischen Kerzenständern, Pflanzen und Vasen steht auf einer Kommode ein Pokal, dessen Sockel eine Siegerliste ziert. 1968 gewann demnach Rosi Mittermaier diese Trophäe für den Skinachwuchs, später wurde zweimal Christl Kolb eingraviert. Und 1972: Christel („Muschi“) Kluth. Neben dem Pokal steht auch noch ein verblichenes Foto, das sie zusammen mit der Gold-Rosi, der Mittermaier, zeigt. „Ich habe viel erlebt“, sagt die 66-Jährige, womit sie aber nicht nur die Jahre als Ravensburger Talent im Kader des Deutschen Skiverbandes (DSV) meint. Sondern auch ihre vielen Reisen rund um die Erde, die Herausforderungen als erfolgreiche Geschäftsfrau sowie ihren beständigen Drang in die Natur, den sie zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht hat. Vor allem deshalb ist sie schon lange das, was sich inzwischen viele nennen: ein Coach.
Coaching, die methodisch angeleitete Hilfe zur Selbsthilfe, begann einst in Amerika im Businessbereich und hat sich zu einer Branche entwickelt, die keine Wachstumsgrenzen zu kennen scheint und keinen Lebensbereich auslässt. Es gibt Management-Coaching, Wellness-Coaching, Life-Coaching, es gibt Art-Coaches und KarriereCoaches, sie machen Teamcoaching, Einzelcoaching, Projektcoaching, Beziehungscoaching, Buddhismuscoaching und Schamanismuscoaching. Ein Überangebot, mit dem weltweit mindestens zwei Milliarden Dollar umgesetzt werden. Deutschland zählt zu den führenden Märkten, allein hier soll es schon mehr als 35 000 Coaches geben. Und ein Ende des Booms ist nicht in Sicht, meint der Psychologieprofessor und Coachingforscher Siegfried Greif von der Universität Osnabrück: „Meine Prognose ist, dass sich der Coachingmarkt nach einem Covid-19-Rückgang wieder erholt und danach weiter expandiert“, so Greif zur „Schwäbischen Zeitung“. Coaching wird sich demnach weitere Felder erschließen, „wie Gesundheitscoaching oder die Reflexion von Sinnfragen und zur Entwicklung der eigenen Werte und Stärken“. Also jener Bereich, in dem Christel Kluth schon praktiziert und damit auf ihren bewegten Zeiten aufbaut.
„Jung, wild und ein wenig verrückt“– so steht es über einem alten Zeitungsbericht über Kluths Skikarriere, die früh enden sollte. Entdeckt wird sie bereits als Elfjährige, wie sie den Hang halsbrecherisch herunterrast, ein Abfahrtstalent. Doch ganz so einfach ist die Zeit damals nicht. Der Vater arbeitet zunächst als Sänger und Fotograf, später als Tennis- und Skilehrer, weshalb die Familie im Sommer in Ravensburg lebt und im Winter in Steibis. Später eröffnen die Eltern in Ravensburg ein Stoffgeschäft (Ellen Stoffe). Christel muss derweil zu Hause helfen, die Schule bewältigen und gleichzeitig im Leistungssport stark sein, was ihr im Deutschen Jugend-Skikader bisweilen schwer gemacht wird: „Die anderen kamen aus Bayern oder dem Allgäu, als Schwäbin haben die mich am Anfang gemobbt, so war das früher.“
Erfolgreich ist sie trotzdem, nach zwei Beinbrüchen und brutalen Kreuzschmerzen macht sie jedoch schon mit 18 Jahren Schluss. „Damals
hat man mir prophezeit, dass ich mit Mitte 30 im Rollstuhl sitze.“Über Jahre muss sie in ärztliche Behandlung – gleichzeitig beschäftigt sich die junge Frau jedoch mit alternativen Methoden. Mit Yoga, mit Atemtherapie, mit der Verbindung von Körper und Geist, von Mensch und Natur – und wird ihre Kreuzschmerzen los. Beruflich wechselt sie zwar in die Textil- und
Designbranche, wird Geschäftsführerin und gemeinsam mit ihrer Schwester Inhaberin von Ellen Stoffe. Parallel bildet sie sich aber weiter in Transaktionsanalyse, in Gestalttherapie, in Schmerzbehandlung und Meditation. „Für mich war das wie Selbsttherapie“, sagt Christel Kluth.
Das Wissen und die Erfahrungen aus ihrem langem Weg, der, wie bei allen Menschen auch Tiefen und Brüche kennt, gibt sie heute als Naturcoach und Achtsamkeitstrainerin weiter. „Es fällt mir leicht, Menschen zu helfen“, sagt Kluth. Und die Menschen nehmen ihre Hilfe an. So betreut sie zusammen mit Schulen und Schulsozialarbeitern in Ferienlagern Kinder, verbindet dort Naturerlebnis mit Themen wie Mobbing und Konfliktmanagement. Auch Arbeitslose unterstützt sie bei der Wiedereingliederung in den Beruf. Und in ihre Seminare kommen Ärzte und Börsenmakler, Angestellte und Hausfrauen, Junge und Alte, nach einer Trennung oder einem Sterbefall, vor persönlichen oder beruflichen Entscheidungen. Egal, ob in guter oder oft auch unsicherer Lebenslage, sie alle wünschen sich Rat und Orientierung. Suchen ein Rezept, einen Plan oder einfach einen Faden, dem sie folgen können.
Für Siegfried Greif hat dieses Streben nach Lösungen mit Wertewandel und Weiterentwicklung der Gesellschaft zu tun: „Wir haben Zeit und Geld, dass wir nicht nur um unsere Existenz kämpfen müssen, sondern auch die Möglichkeit, uns mit der Verbesserung unserer Lebensumstände auseinanderzusetzen.“Psychotherapie sei in diesem Zusammenhang noch immer negativ besetzt, der Zugang über Coaching deutlich leichter. Dazu kommt der Zerfall von Traditionen, wie der schwindende Einfluss von Religionen. „Da fehlt es dann an Orientierung.“
Christel Kluth hält diese Entwicklung für ein gesellschaftliches Phänomen: „Viele Menschen wissen nicht, was ihre innersten Wünsche sind“, sagt sie. „Was sie brauchen und was sie möchten.“Die Leute folgten vielmehr äußeren Vorgaben und Anforderungen, oft angetrieben durch digitale Medien, in denen jeder zeigen müsse, wer er ist und was er hat. „Das erzeugt Druck.“Und macht schlimmstenfalls krank.
Kluth will ihren Klienten diesen Druck nehmen, in dem sie die oft verlorene Verbindung mit der Natur wieder knüpft. Sei es in den Bergen, am Meer oder vor der Haustür, aber immer mit der Schärfung der Sinne; beim Riechen, Sehen, Schmecken, Hören und Fühlen von Gegenwart und Lebensraum. „Wenn man etwas verändern will, ist es gut, die Dinge bewusst wahrzunehmen.“Dabei bietet sie seit Jahren auch das inzwischen beliebte Japanische Waldbaden (Shinrin Yoku) an, also das Umarmen von Bäumen. Näher kann man der Natur wohl kaum kommen. Für manchen allerdings zu nah, doch das weiß Kluth: „Da muss niemand mitmachen“, sagt sie und lächelt.
Wem Baum und Borke an der Wange unpassend auf dem Weg zu mehr Zufriedenheit erscheint, findet leicht etwas anderes – und muss aufpassen, sich nicht im CoachingDschungel
zu verlieren. Allein rund 300 Weiterbildungsorganisationen gibt es in Deutschland, an denen man über verschiedenste Methoden, Lehrgänge und Tools zum Coach werden kann. Das Problem: Genauso wenig wie der Begriff Coach geschützt ist, gibt es auch keine Qualitätssicherung für die Ausübung. Psychologe Greif, der aktuell an einem Werk zu dem Thema arbeitet („Was ist Coaching? Eine Einführung in wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden“), meint: Nur wenige Angebote hierzulande sind wissenschaftlich fundiert. Die Branche versteckt sich oft hinter unklaren Standards und Zertifizierungen sowie mehr als 20 Coachingverbänden.
Greif warnt vor allem davor, dass die Grenzen zwischen Coaching und Psychotherapie völlig aufgehoben werden: „Gerade im Gesundheitscoaching sind die Gefahren groß, dass Berater, die schlecht informiert sind und nicht vorsichtig mit Störungen oder Krankheitsbildern umgehen, erhebliche Schäden bei den Betroffenen anrichten.“Er fordert von Coaches, bei schwierigen Situationen einen Kontakt zu Psychotherapeuten herzustellen.
Sarah Pohl, Leiterin der Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen (ZEBRA) in Freiburg, beobachtet darüber hinaus vermehrt Menschen zwischen 20 und 25 Jahren, die an dubiose Ratgeber geraten. „Das sind oft junge, Erfolg suchende Männer, die mit dem Versprechen geködert werden, das große Geld zu machen“, sagt Pohl. Bei Frauen würden häufiger solche mit dem Wunsch nach Beziehung und Partnerschaft gelockt. Aber wie lassen sich fragwürdige Angebote erkennen? Die ZEBRA-Experten halten es für angemessen, wenn Coaches für Sitzungen – ähnlich wie Therapeuten – bis zu 150 Euro nehmen. In einem Fall hätten Teilnehmer für ein Wochenendseminar 15 000 Euro sinnlos ausgegeben.
Um dagegen einen passenden Coach zu finden, empfiehlt Greif, sich genau die Biografie eines Beraters anzusehen: „Eine gute Weiterbildung des Coaches ist wichtig für seinen Erfolg.“Genauso wie die Frage, ob seine Methoden in wissenschaftlicher Hinsicht den aktuellen Stand wiedergeben. „Und Laien sollten sofort hellhörig werden, wenn ihnen Wunder versprochen werden.“
Christel Kluth verspricht gewiss keine Wunder. Im Gegenteil, sie versucht die Menschen im Hier und Jetzt und auf der Erde zu verankern. Über manche Angebote anderer Coaches ist sie auch manchmal erstaunt, urteilen will sie darüber aber nicht. „Ich denke dann, vielleicht ist es ja genau das, was jetzt jemand braucht, das ihm hilft. Wer weiß.“Genauso, wie es womöglich nicht wenige Menschen gibt, denen es tatsächlich mal guttun würde, innig einen Baum zu umarmen.
„Laien sollten sofort hellhörig werden, wenn ihnen Wunder versprochen werden.“
Siegfried Greif, Psychologieprofessor und Coachingforscher