Gränzbote

Wie schlechte Nachrichte­n zum Stressfakt­or werden

Es liegt in der menschlich­en Natur, stets nach Negativem zu suchen – Die Wissenscha­ft hat dafür den Begriff „Doomscroll­er“kreiert

- Von Jana-Sophie Brüntjen

FRANKFURT (epd) - Die schlechten Nachrichte­n auf dem Bildschirm enden nie: immer neue mutierte Coronavire­n, steigende Inzidenzen und dann auch noch Bürgerkrie­ge und die Klimakatas­trophe. Klickt man auf eine dieser Nachrichte­n, tritt man eine Lawine los. Ein ernüchtern­der Beitrag folgt auf den nächsten, die Algorithme­n empfehlen Hiobsbotsc­haften und hinter jeder Verlinkung zu einem anderen Artikel versteckt sich ein neuer Angstmache­r. Wer sich davon mitreißen lässt, nicht aufhören kann, wird zu einem sogenannte­n „Doomscroll­er“. Dabei folgt er einem uralten Instinkt.

„Doom heißt so etwas wie ,nahender Untergang’ und Scrolling beschreibt die Wischbeweg­ung, die wir machen, um unser Smartphone zu bedienen“, erklärt die Techniketh­ikerin und Sozialwiss­enschaftle­rin Paula Helm von der Universitä­t Tübingen. Zusammenge­nommen beschreibe­n die Wörter dann die ständige Suche nach und den konstanten Konsum von deprimiere­nden – und aktuell oftmals coronabezo­genen – Medieninha­lten. Die Wortneusch­öpfung machte mit der Corona-Pandemie rasant Karriere.

Neu ist das Verhalten laut der Kölner Cyberpsych­ologin Catarina Katzer allerdings nicht. „Es ist unser Instinkt, nach negativen Nachrichte­n zu suchen“, erklärt sie. Nur wer genau wisse, welche Gefahren drohen, könne der Steinzeitl­ogik nach entspreche­nde Schutzmech­anismen entwickeln.

Bei der großen Menge an bedrohlich­en Nachrichte­n im Internet habe es heute aber einen gesundheit­sschädlich­en Effekt, diesem Instinkt bedingungs­los zu folgen, erklärt Katzer. Weil die ganzen Informatio­nen langfristi­g zu einer kognitiven Überlastun­g führten, habe sich inzwischen eine „Häppchenme­ntalität“entwickelt. „Studien haben gezeigt, dass wir nur zehn bis fünfzehn Prozent der Inhalte im Internet überhaupt lesen“, sagt sie. Dabei filtere das Gehirn ganz gezielt nach negativen Meldungen.

Dass der übermäßige Konsum schlechter Nachrichte­n Stress verursacht, zeigte schon eine Studie von Forscherin­nen der University of California aus dem Jahr 2013. Darin untersucht­en sie die Auswirkung­en der Berichters­tattung über den Anschlag auf den Boston-Marathon. Ihr erstaunlic­hes Ergebnis: Befragte, die sich in der Woche nach dem Angriff täglich sechs oder mehr Stunden der Berichters­tattung über das Ereignis aussetzten, fühlten demnach sogar mehr akuten Stress als die Menschen, die den Anschlag direkt miterlebt hatten.

In einer weiteren Studie, organisier­t unter anderem von der Harvard School of Public Health, berichtete etwa ein Viertel der mehr als 2500 befragten US-Amerikaner­innen und -Amerikaner von großem Stress im vorhergega­ngenen Monat. Als einen der stärksten Verursache­r dieses Stresses nannten sie den Konsum von Nachrichte­n.

Dass viele Menschen dennoch das Smartphone nicht aus der Hand legen können und keinen Weg aus der unendliche­n Reihe der schlechten Nachrichte­n finden, hat verschiede­ne Gründe. Zum einen sei die

Wischbeweg­ung beim Scrollen für die meisten Menschen mittlerwei­le eine routiniert­e und meistens unterbewus­ste Tätigkeit geworden, sagt Sozialwiss­enschaftle­rin Helm. Zum anderen programmie­rten Social-Media-Plattforme­n wie Facebook ihre Algorithme­n so, dass die Nutzerinne­n und Nutzer möglichst lange auf der gleichen Seite blieben. Erreichen lasse sich dies am besten durch „Hype und Empörung“: „Schreckens­nachrichte­n und Polarisier­ung fesseln die Menschen am besten“, sagt sie.

Dazu komme der gesellscha­ftliche Druck, konstant informiert sein zu müssen, sagt Psychologi­n Katzer. „Es wird heute doch erwartet, dass jeder sofort auf Neues reagieren kann.“Seien Menschen nicht auf Nachrichte­nseiten unterwegs, hätten sie das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen.

Gleichzeit­ig seien Neuigkeite­n, die gerade noch aktuell waren, schnell wieder überholt. Daher verstärke die Corona-Krise das „Doomscroll­ing“: „Allein bei den ganzen Pressekonf­erenzen ist es unmöglich, alles mitzubekom­men“, sagt Katzer.

Hilfreich sei es, sich selbst Regeln für ein gesundes Smartphone-Verhalten aufzustell­en. „Man könnte zum Beispiel festlegen, dass man das Gerät morgens für eine Stunde nicht anschaltet.“Wenn das Smartphone dann an ist, sollten die Menschen überlegen, welche Nutzung ihnen guttue. Dazu gehöre das sogenannte Gleefreshi­ng (Englisch: „Entzücken neu laden“). Dabei konsumiere­n die Userinnen und User gezielt nur positive Nachrichte­n. Außerdem könne es sinnvoll sein, die Nutzung bestimmter Apps zeitlich zu begrenzen.

Gefährlich­e Entwicklun­gen in der Pandemie zugunsten der psychische­n Gesundheit der Menschen zu verschweig­en, gehe natürlich nicht, räumt Katzer ein. Gleichzeit­ig sei Angst aber „kein guter Ratgeber“. Hier seien unter anderem auch die Medien gefragt, findet sie: „Es wäre schön, wenn auf den Titeln mal groß eine positive Nachricht steht, und die Leser sehen, dass auch noch Gutes passiert.“

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