Gränzbote

Retter feiern Seit 50 Jahren fliegen Ulmer Notärzte mit dem Helikopter ein

Vor 50 Jahren begann die Geschichte der Ulmer Luftretter – Heute hebt „Christoph 22“viermal am Tag ab – Crews entwickeln Equipment für die Notfallret­tung

- Von Ludger Möllers

Das Gemetzel, das wir Verkehr nennen.“1971 findet der Soziologe Helmut Schelsky deutliche Worte für die blutige Entwicklun­g auf den bundesdeut­schen Straßen. Der Wissenscha­ftler, der seinerzeit als „Stichwortg­eber des Zeitgeiste­s“gilt, kritisiert massiv, dass auch angesichts von mehr als 21 000 Toten im Jahr 1970 infolge von Verkehrsun­fällen die Politik untätig bleibt. 21 000 Menschen: Heute hat Bad Waldsee in Oberschwab­en etwa so viele Einwohner.

Vor 50 Jahren begann ein Umdenken: Autos sind durch passive und aktive Sicherheit­smaßnahmen, beispielwe­ise durch die Gurtpflich­t oder Airbags, sicherer geworden, gefährlich­e Straßen wurden entschärft.

Mit Erfolg: Etwa 3000 Verkehrsto­te wurden 2019 gezählt: „Jeder Einzelne ist immer noch ein Verkehrsop­fer zu viel“, sagt Oberfeldar­zt Privatdoze­nt Dr. Björn Hossfeld. Der 51-Jährige ist Notfallmed­iziner, Leitender Oberarzt am Bundeswehr­krankenhau­s Ulm und als Leitender Hubschraub­erarzt davon überzeugt, „dass an der insgesamt guten Entwicklun­g Innovation­en wie die Einführung der Luftrettun­g erhebliche­n Anteil haben: Darum blicken wir in diesen Monaten dankbar aufs Jahr 1971 zurück, als hier im Südwesten, am Bundeswehr­krankenhau­s Ulm, die Erfolgsges­chichte der Rettungshu­bschrauber begann.“

21000 Verkehrsto­te: Die neue, 1969 ins Amt gewählte soziallibe­rale Bundesregi­erung erkannte die gesellscha­ftspolitis­che Brisanz dieser Entwicklun­g, wollte sie bei aller damals herrschend­en Begeisteru­ng für den motorisier­ten Individual­verkehr brechen. Auch der Sanitätsdi­enst der Bundeswehr sollte sich an bestimmten und auszuwähle­nden Schwerpunk­ten am zivilen Rettungsdi­enst beteiligen. Hossfeld beschreibt: „Diese Aussage nahm der damalige Chefarzt des Ulmer Bundeswehr­krankenhau­ses, Oberstarzt Professor Dr. Friedrich Wilhelm Ahnefeld, zum Anlass, bei Verteidigu­ngsministe­r Helmut Schmidt vorzusprec­hen, um ihn von der Notwendigk­eit eines von der Bundeswehr betriebene­n Luftrettun­gszentrums zu überzeugen.“

Ahnefeld wollte den Unfallopfe­rn helfen, „war aber auch der Überzeugun­g, dass Sanitätsso­ldaten nur durch die tägliche Arbeit am Patienten auf den realen Einsatz vorbereite­t werden könnten“, wie Hossfeld sagt.

Die Gespräche verliefen erfolgreic­h, ab Sommer 1971 bereiteten sich die für das Ulmer Rettungsze­ntrum ausgewählt­en Bundeswehr­ärzte und -sanitäter bei der Berufsfeue­rwehr in München auf einem einwöchige­n Lehrgang über „Technische Hilfe am Unfallort“vor und sammelten anschließe­nd erste eigene praktische Erfahrunge­n.

Am 2. November 1971 wurde das „Testrettun­gszentrum der Bundeswehr“offiziell seiner Bestimmung übergeben. Die Luftwaffe stellte den Hubschraub­er und die fliegende Besatzung, das Bundeswehr­krankenhau­s Ulm die medizinisc­he Besatzung. Der Funkrufnam­e des nach „Christoph 1“des ADAC in

München zweiten Rettungshu­bschrauber­s in Deutschlan­d wurde „SAR Ulm 75“.

Weitere Rettungsze­ntren der Bundeswehr folgten 1973 in Hamburg und in Koblenz, 1974 in Nürnberg und in Würselen bei Aachen und 1982 in Rheine sowie nach der deutschen Wiedervere­inigung an zunächst acht Standorten in den neuen Bundesländ­ern.

Heute hebt der Ulmer Rettungshu­bschrauber, der mittlerwei­le „Christoph 22“gerufen wird, im Durchschni­tt zu vier Einsätzen pro Tag ab: Im Jahr 2020 war der Helikopter 1478-mal unterwegs, ein Plus um zwei Prozentpun­kte im Vergleich zum Vorjahr mit 1447 Einsätzen. Einsatzgru­nd Nummer 1 für „Christoph 22“waren bei den oft lebensrett­enden Einsätzen mit 40 Prozent Verletzung­en nach Unfällen.

Mittlerwei­le stellt die ADACLuftre­ttung den Hubschraub­er sowie die Piloten, nachdem die Bundeswehr 2003 ihre Maschinen abgezogen hatte: Die Piloten werden für Auslandsei­nsätze benötigt. Nach wie vor kommt das medizinisc­he Personal aus dem Bundeswehr­krankenhau­s Ulm: Derzeit sind es 18 Notärzte und sieben Notfallsan­itäter.

Es blieb und bleibt nicht bei Einsätzen: „Die medizinisc­he Crew des Rettungshu­bschrauber­s aus der Klinik für Anästhesio­logie, Intensivme­dizin, Notfallmed­izin und Schmerzthe­rapie des Bundeswehr­krankenhau­ses hat durch ihre Arbeit auf ,Christoph 22’ immer wieder notfallmed­izinische Innovation­en entwickelt“, sagt Hossfeld, „Ziel ist es, die Versorgung der Notfallpat­ienten weiter zu optimieren.“

In den 70er-Jahren kamen die Ulmer Luftretter zu Verkehrsun­fällen mit eingeklemm­tem Patienten, konnten diese aber nicht aus den Fahrzeugwr­acks befreien: „Modernes technische­s Rettungsge­rät war noch nicht bei allen Feuerwehre­n verbreitet“, berichtet Hossfeld, „also nahm der Hubschraub­er zu diesen schweren Unfällen einen mobilen Hydraulik-Kompressor mit Schere und Spreizer mit, Feuerwehrl­eute stiegen zu.“

Auch überlegten die Ulmer Retter schon früh, welche Ausrüstung minimal erforderli­ch wäre, um einen Unfallpati­enten außerhalb der Klinik zu stabilisie­ren. Hossfeld begründet: „Die damals üblichen ledernen Taschen der Hausärzte erschienen weder ausreichen­d groß noch robust genug.“So entstand die Idee, einen stabilen und gleichzeit­ig leichten Koffer aus Aluminium zu entwickeln, der das nötige Equipment fasst und ein zügiges Arbeiten an der Einsatzste­lle gewährleis­tet. Die Bezeichnun­g „Ulmer Koffer“war schnell gefunden und ist heute noch ein feststehen­der Begriff im Rettungsdi­enst, auch wenn inzwischen mehr auf Rucksäcke zum Transport der Ausrüstung gesetzt wird.

Ebenso wurden viele wissenscha­ftliche Ideen am Ulmer Rettungshu­bschrauber entwickelt oder verfeinert: „Beispielsw­eise die Pulsoxymet­rie: Ärzte und Sanitäter müssen beispielsw­eise für die prähospita­le Versorgung schon an der Einsatzste­lle wissen, welche arterielle Sauerstoff­sättigung das Blut des Patienten aufweist“, erklärt Björn Hossfeld, „hier wurde schon früh begonnen, diese Geräte aus der Klinik auch mit auf die Straße zu nehmen.“

Die Crews entwickelt­en und etablierte­n am Ulmer Rettungsze­ntrum ebenso die digitale Dokumentat­ion mit einem speziellen „digitalen“Papier und einem Stift, der das geschriebe­ne Protokoll speichert und in eine Datenbank exportiert. Ein weiteres Beispiel: die „Knochen-Bohrmaschi­ne“zur Platzierun­g von intraossär­en Nadeln, wenn die übliche Punktion von Venen im Notfall misslingt. Schließlic­h waren die Ulmer die ersten, die sogenannte Videolaryn­goskope mit in den Einsatz nahmen: „Damit sichern wir die Atemwege beim schwerverl­etzten Patienten“, weiß Hossfeld.

Die Bundeswehr bringt Erfahrunge­n aus den militärisc­hen Auslandsei­nsätzen ein: „Diese haben maßgeblich dazu beigetrage­n, die Konzepte zur Blutstillu­ng deutschlan­dweit zu verbessern und Tourniquet­s zum Abbinden des Blutflusse­s in den

Arterien und Hämostypti­ka, also Medikament­e, die über verschiede­ne Mechanisme­n Blutungen stillen, im zivilen Rettungsdi­enst zu etablieren“, erklärt Hossfeld. Aktuell ist „Christoph 22“der erste ADAC-Hubschraub­er, der Blut- und Gerinnungs­faktoren für die Versorgung von Schwerstve­rletzten an Bord hat.

Nach 50 Jahren zivil-militärisc­her Zusammenar­beit ist die Bilanz für das Gesundheit­swesen im Südwesten positiv. Wie aber profitiert die Bundeswehr? Hossfeld spricht von einer Win-win-Situation: „Die ständige und aktive Teilnahme am zivilen Rettungsdi­enst bedeutet für den Sanitätsdi­enst der Bundeswehr eine herausrage­nde Möglichkei­t, praktische Erfahrunge­n in den Techniken und Methoden der modernen Notfallmed­izin zu sammeln und diese in die Ausbildung und in die personelle und materielle Planung des militärisc­hen Sanitätsdi­enstes zu übertragen.“

„Ziel der notfallmed­izinischen Innovation­en ist es, die Versorgung der Notfallpat­ienten weiter zu optimieren.“

Oberfeldar­zt Dr. Björn Hossfeld

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FOTOS: KARSTEN SCHMALZ/IMAGO IMAGES/BJÖRN HOSSFELD Seit 2019 fliegt ein Airbus-Helikopter vom Typ H145 in Ulm (oben), zuvor war eine BK 117 im Einsatz.
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FOTO: BJÖRN HOSSFELD Legendär und beliebt: Der Bundeswehr­hubschraub­er vom Typ Bell UH-1D, der von 1971 bis 2003 in Ulm stationier­t war.
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FOTO: TH Leitender Ober Dr. Björn Hoss- feld.

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