Traumatisierte Frauen schweigen oft
Sie hätten Anspruch auf Asyl - Doch häufig können sie nicht über ihre Erfahrungen sprechen
SPAICHINGEN/VILLINGENSCHWENNINGEN - Vor über 100 Jahren entstand der Internationale Frauentag für mehr Gleichberechtigung und im Kampf für das Frauenwahlrecht. Zwar steht inzwischen nicht mehr das Frauenwahlrecht im Mittelpunkt, wohl aber die Gleichberechtigung und der Schutz von Frauen. Noch immer sind Frauen weltweit teilweise großer Gefahr oder sogar dem Tod ausgesetzt allein aufgrund ihres Geschlechts. Auch im Landkreis Tuttlingen werden geflüchtete Frauen mit Gewalterfahrungen psychotherapeutisch betreut.
Viele Frauen fliehen aus ihren Heimatländern, weil sie dort Opfer geschlechterspezifischer Gewalt wurden. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt, dass geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe im Fluchtgeschehen eine große Rolle spielen. Das können Formen häuslicher Gewalt sein, Zwangsabtreibungen, Zwangsheirat, Zwangssterilisierung, Genitalverstümmelung oder Vergewaltigungen, vor allem auch in Kriegsgebieten. „Von 70 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, machen Frauen und Kinder 80 Prozent aus. Das sagt schon viel aus“, sagt Astrid Sterzel, Geschäftsführerin von Refugio in Villingen-Schwenningen. Refugio ist ein psychosoziales Zentrum für traumatisierte Geflüchtete, das auch Geflüchtete aus dem Landkreis Tuttlingen psychotherapeutisch versorgt und unter anderem geflüchtete Frauen betreut, die in ihrer Heimat oder auf der Flucht Gewalt erlitten haben. Denn auch der Weg birgt Risiken: Frauen werden teilweise zur Prostitution gezwungen, um die Kosten für die Flucht abzuarbeiten.
Von den Klientinnen und Klienten die Refugio betreut, sind 60 Prozent männlich und 40 Prozent weiblich. Dieses Verhältnis ergibt sich deshalb, weil Männern aufgrund ihrer Stärke eher die Flucht nach Europa gelingt und Frauen wegen der potentiellen Gefahren seltener diesen Weg gehen. Die meisten der Frauen von den weltweit Geflüchteten sind Binnenflüchtlinge oder fliehen maximal in die Nachbarländer, erklärt Sterzel. Doch für bestimmte Herkunftsländer zeichnet sich bei Refugio VillingenSchwenningen ein deutliches Bild ab. 70 Prozent der Klientinnen aus dem Nordirak seien weiblich, jede zweite von ihnen habe geschlechterspezifische Gewalt erlebt, einige auch das Schicksal, als Sexsklavinnen des IS mehrfach verkauft worden zu sein. Geflohene Frauen aus Afghanistan würden in der Mehrzahl auch geschlechterspezifische Gewalt und Diskriminierung, vor allem durch die Taliban oder die Männer in den eigenen Familien, angeben, so Sterzel.
Ebenfalls bei 70 Prozent liegt bei Refugio der Frauenanteil aus Nigeria. „100 Prozent von ihnen haben geschlechterspezifische Gewalt erlebt“, sagt Sterzel, „insbesondere Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung und Genitalverstümmelung.“Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass alle nigerianischen Frauen, die nach Deutschland kommen, dieses Schicksal teilen, aber laut Sterzel viele von ihnen.
2005 hat Deutschland geschlechterspezifische Gewalt (umfasst grundsätzlich alle Geschlechter) als Asylgrund anerkannt. Im Jahr 2020 wurden laut BAMF 1 809 Personen aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung als Flüchtling anerkannt. Das sind 1,25 Prozent aller bewilligten Anträge. Sterzel vermutet, dass die Dunkelziffer derjenigen Frauen, die über das, was sie erlebt haben nicht sprechen können, hoch ist. Das kann zum Problem werden. Zum einen, weil die Frauen ihr Schicksal still mit sich herumtragen, zum anderen, weil ihnen dadurch möglicherweise das Recht auf Asyl verwehrt wird, das ihnen eigentlich zustehen würde. Sterzel kennt Fälle nigerianischer Frauen, deren Verfahren zunächst abgelehnt wurde, weil sie nicht über ihre Erfahrungen sprechen konnten, die ihre Gründe dann aber neu vorlegen durften.
Doch wie erreicht man Frauen, die so etwas erlebt haben? „Häufig stellt man sich eine Traumatisierung so vor, dass dabei jemand austickt, aber meist ist das Gegenteil der Fall. Traumatisierte fallen eher dadurch auf, dass sie nicht auffallen“, sagt Sterzel. Ein sicherer Ort, eine Vertrauensbasis und viel Zeit seien essenziell, damit sich Betroffene überhaupt öffnen können.
Grundsätzlich fordert sie: „Wir müssten mit viel mehr sozialen Angeboten in die Fläche gehen.“Gesprächsdienste in den Gemeinschaftsunterkünften sollten entsprechend sensibilisiert werden. Integrationsmanagerinnen und -manager allein könnten das gar nicht leisten. Auch ehrenamtliche Flüchtlingshelferinnen und -helfer sind dafür meist nicht geschult. „Wir sind für die praktischen und handfesten Dinge zuständig“, sagt Diakonin Gritli Lücking von der Flüchtlingshilfe in Spaichingen. Das bedeutet Unterstützung bei alltäglichen Dingen, bei Behördengängen, Austausch im Flüchtlingscafé aber keine therapeutischen Gespräche. „Wir wissen ja gar nicht, was das auslöst, wenn wir das ansprechen würden.“Auch Hadwig Scheidel, Integrationsmanagerin im Landkreis Tuttlingen, sagt, sie sei vorsichtig, solche Themen anzusprechen. Wenn sie aber von den Schicksalen der Frauen erfährt, nimmt sie mit den entsprechenden Stellen, beispielsweise mit Refugio, Kontakt auf. „Das ist immer hochsensibel“, sagt sie. „Wir müssen den Geflüchteten auch klar machen, dass nichts zu ihrem Nachteil passiert.“
Alle drei Frauen nennen die Sprache als Schlüssel. Denn es geht um Themen, für die es schon in der eigenen Sprache kaum Worte gibt. Sterzel fordert deshalb von der Politik die Übernahme von Dolmetscherkosten. Dolmetscherinnen und Dolmetscher sollten ihrer Meinung nach besser geschult werden: Wie sollen sie reagieren, wenn Frauen von Gewalterfahrungen sprechen? Weitere zentrale Punkte: Mehr weibliche Dolmetscherinnen und Frauen als Entscheiderinnen in den Asylbehörden und bei rechtlichen Anhörungen. Das könnte ebenfalls dafür sorgen, dass geflüchtete Frauen eher von ihren Gewalterfahrungen berichten können, sie zu ihrem Recht kommen und ein breiteres Bewusstsein dafür entsteht, was sie erlebt haben.
Anlaufstellen für Betroffene: Fraueninformationszentrum in Stuttgart, FreiJa in Freiburg, Solwodi (Solidary with women in distress), das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen 08000 116 016 und Refugio www.refugio-vs.de
Gewalt gegen Frauen ist kein Phänomen, das nur andere Länder betrifft. Von den Opfern statistisch erfasster Partnerschaftsgewalt in Deutschland sind 81 Prozent (knapp 115000) weiblich. Zahlen des BKA von 2019 zeigen, dass von insgesamt 394 Opfern tödlicher Partnerschaftsgewalt 301 weiblich waren. Häusliche Gewalt betrifft in Deutschland Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Milieus. Hilfe für Betroffen gibt es unter 08000 116 016.