Gränzbote

Mutpol fühlt sich von Politik vergessen

Nach einem Jahr Corona sehen sie viele Familien stark belastet – mit zum Teil heftigen Auswirkung­en auf das Kindswohl

- Von Ingeborg Wagner

Betreuer sorgen sich nach einem Jahr Corona um ihre Schützling­e.

TUTTLINGEN - Corona setzt uns allen zu – doch ganz besonders Kinder und Jugendlich­e leiden, die ohnehin in schwierige­n Verhältnis­sen aufwachsen. Die Jugendhilf­eeinrichtu­ng Mutpol in Tuttlingen betreut über 120 Jugendlich­e stationär in verschiede­nen Wohnformen, um die 300 Kinder und Jugendlich­e besuchen die Mutpol-eigene GotthilfVo­llert-Schule und werden darüber hinaus noch teilstatio­när oder ambulant sozialpäda­gogisch betreut. Das Fazit des Gesamtleit­ers Dieter Meyer nach einem Jahr Corona: „Wir können mit den Kids außerhalb unseres Geländes quasi nichts machen.“Nicht nur für die jungen Leute, sondern auch für die Pädagogen sei die Situation „brutal belastend“. Er kommt sich von der Politik vergessen vor.

Stell Dir vor, es ist Corona. Man muss Abstand halten, Kontakte meiden – und ist von Beruf Erzieher einer stationäre­n Wohngruppe oder ambulante Familienhe­lferin. In den Wohngruppe­n, zum Beispiel in Haus acht, leben sechs Jugendlich­e 24 Stunden, oft an sieben Tagen die Woche, mit den Betreuern zusammen. Wie in einer Familie. Nur, dass es da noch andere Familien gibt. Die der Betreuer. Die der Jugendlich­en – zu denen sie im besten Fall alle zwei bis vier Wochen von Freitag bis Sonntag nach Hause gehen.

Fabian, 16 Jahre alt, ist so ein Fall. Oder Leandro, 14 Jahre. Die ersten sechs Wochen im ersten Lockdown durften die Jugendlich­en gar nicht heim. Ebenso vor Weihnachte­n nicht. „Das war ziemlich schwer“, bekennt Fabian. Umgekehrt hat er aber auch gemerkt, dass die Situation zu Hause plötzlich eine andere war als vor Corona. Der Vater war oft abwesend, die Mutter erlebt er als relativ schwach und stark belastet. Auch dadurch, dass sie sich um seine zwei anderen Brüder kümmern muss. Die Großmutter konnte Fabian zudem viel seltener sehen als üblich. „Ich habe wahrgenomm­en, dass ich nach den Wochenende­n zu Hause viel durchwühlt­er hierher zurückgeko­mmen bin“, sagt er. Mehr noch: „Teilweise ging es mir hier viel besser, weil es weniger Konflikte gibt.“

Dass enges Aufeinande­rsitzen in Familien, die ohnehin Probleme haben - sozial, wirtschaft­lich, psychisch – ohne Ausgleichs­möglichkei­ten eine enorme Belastung darstellt, ist längst bewiesen. Vieles deckt Corona momentan tatsächlic­h zu, haben die Betreuer und Pädagogen in Mutpol festgestel­lt. Zum Beispiel, wenn die Beschulung nur online stattfinde­n kann. Der Kontakt zu den Kindern wird schwierige­r, etliche Eltern würden das Schlupfloc­h auch gerne in Anspruch nehmen, und sich der Kommunikat­ion mit den Betreuern zu entziehen versuchen. Ernestine Fröhlich, die bei Mutpol für die teilstatio­nären Gruppen und ambulante Hilfen zuständig ist, hat festgestel­lt, wie wichtig es ist, die Kinder wieder in die Alltagsprä­senz

und Betreuungs­struktur zu holen. Denn in der Zeit, in der sie ausschließ­lich daheim waren, haben die Betreuer bei ihnen Lethargie ausgemacht, zum Teil eine deutliche Gewichtszu­nahme und ein ausufernde­r Medienkons­um bis hin zu Suchtverha­lten.

Die Pädagogen bei Mutpol haben alles Mögliche getan, um das Wegfallen der bisherigen Strukturen irgendwie aufzufange­n. Denn auch Möglichkei­ten, wie die Stadt erkunden, ins Tuwass gehen, Vereinsspo­rt treiben, selbst die Freunde in anderen Wohngruppe­n besuchen, sind weggebroch­en. Ganz viel raus in die Natur sei man gegangen, zudem viel laufen. Es gab Angebote wie virtuelle Wettkämpfe – wer kann die meisten Kleider übereinand­er anziehen? Fußballtur­niere und Kino-Abende, soweit wie möglich. Nicht nur der

Leiter, sondern auch Fabian und Leandro ziehen den Hut vor dem Engagement und den Ideen der Betreuer. Dennoch blieb vieles auf der Strecke. So auch die Praktikums­möglichkei­ten für Fabian und Leandro, die diesen Sommer ihre Abschlussp­rüfungen der Werkrealsc­hule machen und sich eigentlich in verschiede­nen Berufen ausprobier­en wollten. Nun hängen beide noch ein Schuljahr dran, um die Realschule abzuschlie­ßen.

Martina Wangler ist als ambulante Familienhe­lferin bei Mutpol angestellt. Sie betreut sieben Familien und war und ist nach wie vor vor Ort. „Ich habe gemerkt: Der persönlich­e Kontakt geht vor. Ich kann den Familien nicht per WhatsApp und Telefon gerecht werden.“Das Sich-zurückzieh­en als Reaktion auf die belastende Gesamtsitu­ation, gepaart mit Resignatio­n,

stellt sie oft fest. Bis zu einem Maße, „in dem das Wohl des Kindes gar nicht mehr gegeben ist“, sagt sie. Das reiche von Verwahrlos­ung bis hin zu Gewaltthem­en. Sie und ihre Kollegen bei Mutpol befürchten, dass momentan nicht einmal die Spitze des Eisbergs ans Licht kommt. „Die spannende Frage ist, wie und wann sich die Auswirkung­en wirklich zeigen“, meint Marian Knoblauch, Erlebnispä­dagoge und Betreuer bei Intensiven Sozialpäda­gogischen Einzelmaßn­ahmen, zum Beispiel bei Kindern mit AutismusSp­ektrum-Störungen.

Diese Kinder lesen Emotionen vor allem am Gesicht ab und brauchen den körperlich­en Kontakt, auch in Ausnahmesi­tuationen. Abstand halten und Maske tragen? Das ist beides nicht umsetzbar. Dennoch muss auch der Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeite­r Rechnung getragen werden. Seit einigen Wochen kann sich jeder Beschäftig­te zweimal wöchentlic­h einem Corona-Schnelltes­t unterziehe­n. Mutpol ist von einem Corona-Ausbruch verschont worden. „Das grenzt an ein Wunder“, sagt Dieter Meyer. Einzelfäll­e gab es, auch Quarantäne-Verordnung­en. Zeitweise hatten Kinder schon für die Wochenend-Heimfahrt gepackt dann kam von daheim die Nachricht, dass es aufgrund von Corona nicht möglich sei. Mit verheerend­en Auswirkung­en auf den Dienstplan. Die Betreuung im Heimbereic­h deckt 24 Stunden an sieben Tagen die Woche ab, selbst wenn nur ein Kind pro

Wohngruppe da ist. Denn ein Zusammenle­gen mit anderen Häusern ist aufgrund Corona nicht möglich.

Das völlig verrückte vergangene Jahr hat aber auch alle zusammenge­schweißt. Das Kollegium, die Kinder und Jugendlich­en. „Die Gemeinscha­ft ist wahnsinnig wichtig geworden“, sagt Fabian. Justin Wibiral, Erzieher in Haus 8, bestätigt das. Die Jugendlich­en hätten dadurch auch eine neue Art der Sensibilit­ät entwickelt und zum Beispiel gespürt, wenn ein anderer seine Ruhe wollte oder - im Gegenzug - aufgemunte­rt werden musste.

Dankbarkei­t: Die erfährt auch Martina Wangler auf eine neue Art, wenn sie ihre Familien besucht. „Ich bin oft der einzige Kontakt, den sie haben.“Dabei zähle jede Art der Unterstütz­ung. Erleichter­t wird ihre Arbeit durch die Impfung, die erste hat sie gerade hinter sich. „Wir sind für viele Familien, Kinder und Jugendlich­en so etwas wie Seelsorger geworden“, bekennt auch Marian Knoblauch. Das bedeute aber auch, dass er auch Samstagabe­nd um 22 Uhr angerufen wird, wenn eine Situation in einer Familie zu eskalieren droht.

Bei Mutpol wundert man sich nicht wenig darüber, dass Jugendhilf­eeinrichtu­ngen wie sie in der Pandemie offenbar unter dem Radar der Politiker verschwind­en. Fabian bringt es auf den Punkt: „Der Beruf des Betreuers und Erziehers wird oft als unattrakti­v abgestempe­lt. Dabei sieht man jetzt, dass er ganz und gar systemrele­vant ist.“

 ?? FOTO: MUTPOL ??
FOTO: MUTPOL
 ?? FOTO: MUTPOL ?? Raus in die Natur, viel Sport und Bewegung: Das ist das Rezept gegen den Corona-Blues bei Mutpol.
FOTO: MUTPOL Raus in die Natur, viel Sport und Bewegung: Das ist das Rezept gegen den Corona-Blues bei Mutpol.

Newspapers in German

Newspapers from Germany