Wenn der Seltenbach zum reißenden Fluss wird
„Der Seltenbach kommt!“, hieß es am 26. Juni 1953. Wolkenbruchartige Gewitterregen in der Gegend von Emmingen füllten das Seltenbachbett in kürzester Zeit auf. Die Wasser rissen Heu, Holz und Unrat mit und bahnten sich ihren Weg nach Tuttlingen. Die durch einen Rechen geschützte Seltenbachdole an der Alexanderstraße war im Nu verstopft, es bildete sich ein See. „Schäumend und strudelnd“, so berichtete der Gränzbote, brachen daraufhin die Wassermassen durch die Gärten der Alexanderstraße in die Stockacher Straße ein. „In wenigen Minuten war diese überflutet und aus ihr ein reißender Fluss geworden, der sich zirka 20 bis 30 Zentimeter tief der Innenstadt zuwälzte“, schilderte die Zeitung das Ereignis.
Von der Stockacher Straße aus ergossen sich die Fluten in die unteren Teile der Freiburg-, Berg-,
Schaffhauser- und Möhringer Straße, wälzten sich dann die Rosenund Gartenstraße hinunter und füllten auch Teile der Zeughaus-, Oberamtei-, Kirch- und Salzstraße, berichteten Augenzeugen. Am Burgtheater und beim Autobahnhof bildeten sich richtige Seen. Das Wasser stand oft über einen Meter hoch in den Kellern.
Vom drohenden Seltenbach ist heute in Tuttlingen so wenig zu sehen wie vom trockenen. Nach und nach wurde der unscheinbare Wasserlauf komplett verdolt, der Seltenbach wurde unter die Erde verlegt. 1966 erreichte die Seltenbachdole mit fast drei Kilometern Länge ihren Endpunkt am ScalaKino.
Im September 1793 riss der Seltenbach, an dem damals die Landstraße verlief, bei einem weiteren Hochwasser südlich von Tuttlingen einen 14-jährigen Jungen zu Tode. 2014 kam es durch Gewitter und Starkregen im Kreis Tuttlingen zum größten Hochwassereinsatz seit 50 Jahren. Die Rettungsdienste registrierten über 1000 Notrufe. Ein Funkspruch lautete: „Die Donau fließt über den Berg“. Als erstes traf das Wasser gegen 19.30 Uhr die Talhöfe und den Landgasthof Hühnerhof. Auf dem Talhof musste die Feuerwehr zwei Menschen und drei Pferde retten. Ab 20 Uhr erreichten die Wassermassen das Stadtgebiet. Vor allem entlang der Stockacher Straße, der Bodenseeund der Föhrenstraße liefen Firmenräume sowie Dutzende von Kellern voll. Gleichzeitig hatte Tuttlingen aber Glück im Unglück: Das meiste Wasser konnte von der SeltenbachDole aufgenommen und in die Donau abgeleitet werden. Die Kapazität der Dole reichte aus, weil die Regenfälle gegen 2.30 Uhr endeten. Hätte es die Nacht durchgeregnet, wäre möglicherweise die Innenstadt überschwemmt worden. Angerichtet wurden die meisten Schäden vom Regenwasser, das aus Richtung Emmingen in die Stadt geströmt war. (iw)