Sie wollen helfen und werden angegriffen
Agressives Verhalten gegenüber Rettungskräften nimmt zu - häufig geht es vom Patienten aus
SPAICHINGEN/KREIS - Zum Glück gibt es Menschen in unserer Gesellschaft, die es sich zum Beruf gemacht haben oder die sich im Ehrenamt dafür engagieren, anderen zu helfen – Rettungskräfte etwa oder Feuerwehrleute. Umso erschreckender ist es, wenn diese Helfer Ziel von körperlicher und verbaler Gewalt werden – und zwar häufig gerade von den Menschen, denen sie helfen wollen. Auch im Kreis Tuttlingen kommt dies immer wieder vor. Aber was sind die Gründe für dieses so unverständliche Verhalten?
In einem Schützenhaus im Kreis Tuttlingen zecht ein Mann mit ehemaligen Kameraden seit dem frühen Nachmittag. Als der stark alkoholisierte Mann gegen 19.45 Uhr nicht mehr von der Toilette zurückkehrt, schaut der Wirt nach und findet ihn am Boden liegend vor. Er ist zwar unverletzt, kann aber nicht mehr aufstehen und sich nicht auf den Füßen halten. Der Mann will durch den Rettungsdienst nach Hause gebracht werden.
Doch weil er alleine lebt und sich in seinem momentanen Zustand nicht selbst adäquat versorgen kann, bieten die Helfer vom DRK-Rettungsdienst ihm an – auch um sich nicht einer sogenannten „Aussetzung“schuldig zu machen, bei der jemand in einer hilflosen Lage im Stich gelassen wird – , den Patienten zur Ausnüchterung ins Krankenhaus zu bringen. Daraufhin wird der Patient aggressiv, beleidigt das Rettungsdienst-Personal als „ihr Penner“, „du bist scheiße“. Beim Versuch der neurologischen Untersuchung (Kreuzgriff) drückt der Patient die Hände des Notfall-Sanitäters sehr stark zusammen und lässt nicht freiwillig los. Die Rettungskräfte ziehen die Polizei hinzu. Statt sich für die Hilfe zu bedanken, sendet er dem Rettungspersonal noch ein „f **** t euch“hinterher.
Dokumentiert hat diesen Fall ein Sanitäter in der Dokumentationssoftware „Orgavision“, die der DRK Kreisverband Tuttlingen seit zwei Jahren zum Zweck des Qualitätsmanagements nutzt. Alle Mitarbeiter des DRK-Kreisverbands Tuttlingen wurden darauf hingewiesen, dass sie über dieses Softwareprogramm unter anderem alle Vorfälle von Gewalt dokumentieren sollen, damit später eine Beweisführung einfacher ist. Darin wurde neben fünf anderen Fällen im vergangenen Jahr auch der oben geschilderte Fall dokumentiert. „Die Dunkelziffer ist sicher deutlich höher“, so DRK-Kreisgeschäftsführer Oliver Ehret, „da unsere Mitarbeiter rein verbale Angriffe oder auch sexuelle Anzüglichkeiten in der Regel nicht dokumentieren“.
Im gerade geschilderten Fall war eindeutig Alkohol im Spiel gewesen. „Die meisten Übergriffe sind alkoholoder drogenbedingter Natur oder einer sozial bedenklichen Familienstruktur geschuldet“, sagt Oliver Ehret. Oft sind die Angreifer in psychischen Ausnahmesituationen.
Eine nicht repräsentative Umfrage des DRK Deutschland unter 425 Mitarbeiter von DRK-Rettungsdiensten, die im Februar veröffentlicht wurde, hat ergeben, dass die Täter in drei Viertel der Fälle die Patienten selbst sind, oftmals aber auch deren Freunde oder Angehörige. Ein ähnliches Ergebnis hatte schon 2012 eine Studie über Gewalt gegen Rettungskräfte in Nordrhein-Westfahlen durch Wissenschaftler vom Institut für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum ergeben. Demnach sind die Täter in fast 90 Prozent der Fälle männlich und zu fast 70 Prozent handelt es sich bei den Tätern um Patienten.
Jugendgewalt spielt laut dieser Studie kaum eine Rolle, die Täter seien vielmehr meist zwischen 20 und 40 Jahre alt. Am häufigsten sind verbale Attacken wie Beschimpfungen oder Beleidigungen. In über 40 Prozent der Fälle standen die Täter unter Einfluss von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Aber auch psychische Erkrankungen spielen eine Rolle.
Auch Rettungssanitäter im Kreis Tuttlingen werden gelegentlich von Patienten in psychischen Ausnahmezuständen angegriffen, etwa wenn eine Patientin, die unter einem Nervenzusammenbruch leidet, – auch das ein Fall aus dem Dokumentationssystem
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– versucht, sich den Zugang zu ziehen, und den Sanitäter beim Versuch, sie daran zu hindern, in den Arm beißt.
Oft kommen die Angriffe unvermittelt, und die Betroffenen können sich das Motiv nicht erklären. So berichtet etwa ein Mitarbeiter aus der Notaufnahme in den frühen Morgenstunden: „Nach Feuerwehreinsatz mit Rauchgasinhalation und unter Alkoholbeeinflußung griff mich der Patient auf der Zentralen Notaufnahme urplötzlich an und schlug mit voller Wucht seine Faust auf meinen rechten Hinterkopf. Die drei anwesenden Polizeibeamten konnten den Patienten sofort überwältigen und fixieren.“
Manchmal spielt ein überzogenes
Anspruchsdenken eine Rolle. Patienten oder Angehörige verstehen nicht, warum sie warten müssen,
Schon als die DRK-Helfer eine Patientin aus dem Schwarzwald-BaarKlinikum abholten, um sie nach Hause in den Kreis Tuttlingen zu bringen, wurden sie von der Patientin gewarnt, dass ihr Ehemann wohl „sauer“sei, dass sie länger hätte warten müssen. Tatsächlich griff der Mann die Sanitäter dann verbal an: „Von dir Pisser lass ich mir gar nichts sagen!“Auf sein respektloses Verhalten angesprochen, sagte er: „Du junger Seicher brauchst mir nichts von Respekt erzählen!“- „Macht euren Job und verpisst euch!“Der Mann habe zudem „mehrfach“betont, er glaube nicht an den Corona-Virus, und habe sich auch „mehrfach“provokant die Mund-Nasen-Maske abgesetzt.
Auch mit Querdenkern, CoronaLeugnern und Reichsbürgern, „die meinen, sie müssten anderen ihre Meinung aufdrücken“, hätten es Rettungssanitäter gelegentlich zu tun, berichtet Ehret. Mit im engeren Sinne politischer Gewalt – etwa von Rechts- oder Linksextremen – hätte man aber im Kreis Tuttlingen keine Probleme. Aber Respektlosigkeit gegen Uniformträger – auch Feuerwehrleute oder Polizisten – nähmen zu.
Überhaupt hat DRK-Kreisgeschäftsführer Ehret den subjektiven Eindruck, dass der Respekt und die Rücksicht auf andere abnehmen. Man merke das zum Beispiel auch an Autofahrern, die hupen und schimpfen, weil ein Rettungswagen den Weg versperrt. Diese sähen dann zwar, dass sie zu ihrem eigenen – höchstwahrscheinlich nicht lebenswichtigen – Termin zu spät kommen; aber nicht, dass die eventuell lebensrettende Tätigkeit der Sanitäter in diesem Fall vielleicht wichtiger sein könnte. Der DRK-Kreisgeschäftsführer appelliert daher auch, „im Sinne der christlichen Nächstenliebe daran zudenken, dass man auch einmal selbst der Nächste sein könnte, der einen barmherzigen Helfer braucht“.