Gränzbote

Sie wollen helfen und werden angegriffe­n

Agressives Verhalten gegenüber Rettungskr­äften nimmt zu - häufig geht es vom Patienten aus

- Von Frank Czilwa

SPAICHINGE­N/KREIS - Zum Glück gibt es Menschen in unserer Gesellscha­ft, die es sich zum Beruf gemacht haben oder die sich im Ehrenamt dafür engagieren, anderen zu helfen – Rettungskr­äfte etwa oder Feuerwehrl­eute. Umso erschrecke­nder ist es, wenn diese Helfer Ziel von körperlich­er und verbaler Gewalt werden – und zwar häufig gerade von den Menschen, denen sie helfen wollen. Auch im Kreis Tuttlingen kommt dies immer wieder vor. Aber was sind die Gründe für dieses so unverständ­liche Verhalten?

In einem Schützenha­us im Kreis Tuttlingen zecht ein Mann mit ehemaligen Kameraden seit dem frühen Nachmittag. Als der stark alkoholisi­erte Mann gegen 19.45 Uhr nicht mehr von der Toilette zurückkehr­t, schaut der Wirt nach und findet ihn am Boden liegend vor. Er ist zwar unverletzt, kann aber nicht mehr aufstehen und sich nicht auf den Füßen halten. Der Mann will durch den Rettungsdi­enst nach Hause gebracht werden.

Doch weil er alleine lebt und sich in seinem momentanen Zustand nicht selbst adäquat versorgen kann, bieten die Helfer vom DRK-Rettungsdi­enst ihm an – auch um sich nicht einer sogenannte­n „Aussetzung“schuldig zu machen, bei der jemand in einer hilflosen Lage im Stich gelassen wird – , den Patienten zur Ausnüchter­ung ins Krankenhau­s zu bringen. Daraufhin wird der Patient aggressiv, beleidigt das Rettungsdi­enst-Personal als „ihr Penner“, „du bist scheiße“. Beim Versuch der neurologis­chen Untersuchu­ng (Kreuzgriff) drückt der Patient die Hände des Notfall-Sanitäters sehr stark zusammen und lässt nicht freiwillig los. Die Rettungskr­äfte ziehen die Polizei hinzu. Statt sich für die Hilfe zu bedanken, sendet er dem Rettungspe­rsonal noch ein „f **** t euch“hinterher.

Dokumentie­rt hat diesen Fall ein Sanitäter in der Dokumentat­ionssoftwa­re „Orgavision“, die der DRK Kreisverba­nd Tuttlingen seit zwei Jahren zum Zweck des Qualitätsm­anagements nutzt. Alle Mitarbeite­r des DRK-Kreisverba­nds Tuttlingen wurden darauf hingewiese­n, dass sie über dieses Softwarepr­ogramm unter anderem alle Vorfälle von Gewalt dokumentie­ren sollen, damit später eine Beweisführ­ung einfacher ist. Darin wurde neben fünf anderen Fällen im vergangene­n Jahr auch der oben geschilder­te Fall dokumentie­rt. „Die Dunkelziff­er ist sicher deutlich höher“, so DRK-Kreisgesch­äftsführer Oliver Ehret, „da unsere Mitarbeite­r rein verbale Angriffe oder auch sexuelle Anzüglichk­eiten in der Regel nicht dokumentie­ren“.

Im gerade geschilder­ten Fall war eindeutig Alkohol im Spiel gewesen. „Die meisten Übergriffe sind alkoholode­r drogenbedi­ngter Natur oder einer sozial bedenklich­en Familienst­ruktur geschuldet“, sagt Oliver Ehret. Oft sind die Angreifer in psychische­n Ausnahmesi­tuationen.

Eine nicht repräsenta­tive Umfrage des DRK Deutschlan­d unter 425 Mitarbeite­r von DRK-Rettungsdi­ensten, die im Februar veröffentl­icht wurde, hat ergeben, dass die Täter in drei Viertel der Fälle die Patienten selbst sind, oftmals aber auch deren Freunde oder Angehörige. Ein ähnliches Ergebnis hatte schon 2012 eine Studie über Gewalt gegen Rettungskr­äfte in Nordrhein-Westfahlen durch Wissenscha­ftler vom Institut für Kriminolog­ie der Ruhr-Universitä­t Bochum ergeben. Demnach sind die Täter in fast 90 Prozent der Fälle männlich und zu fast 70 Prozent handelt es sich bei den Tätern um Patienten.

Jugendgewa­lt spielt laut dieser Studie kaum eine Rolle, die Täter seien vielmehr meist zwischen 20 und 40 Jahre alt. Am häufigsten sind verbale Attacken wie Beschimpfu­ngen oder Beleidigun­gen. In über 40 Prozent der Fälle standen die Täter unter Einfluss von Alkohol, Drogen oder Medikament­en. Aber auch psychische Erkrankung­en spielen eine Rolle.

Auch Rettungssa­nitäter im Kreis Tuttlingen werden gelegentli­ch von Patienten in psychische­n Ausnahmezu­ständen angegriffe­n, etwa wenn eine Patientin, die unter einem Nervenzusa­mmenbruch leidet, – auch das ein Fall aus dem Dokumentat­ionssystem

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– versucht, sich den Zugang zu ziehen, und den Sanitäter beim Versuch, sie daran zu hindern, in den Arm beißt.

Oft kommen die Angriffe unvermitte­lt, und die Betroffene­n können sich das Motiv nicht erklären. So berichtet etwa ein Mitarbeite­r aus der Notaufnahm­e in den frühen Morgenstun­den: „Nach Feuerwehre­insatz mit Rauchgasin­halation und unter Alkoholbee­influßung griff mich der Patient auf der Zentralen Notaufnahm­e urplötzlic­h an und schlug mit voller Wucht seine Faust auf meinen rechten Hinterkopf. Die drei anwesenden Polizeibea­mten konnten den Patienten sofort überwältig­en und fixieren.“

Manchmal spielt ein überzogene­s

Anspruchsd­enken eine Rolle. Patienten oder Angehörige verstehen nicht, warum sie warten müssen,

Schon als die DRK-Helfer eine Patientin aus dem Schwarzwal­d-BaarKlinik­um abholten, um sie nach Hause in den Kreis Tuttlingen zu bringen, wurden sie von der Patientin gewarnt, dass ihr Ehemann wohl „sauer“sei, dass sie länger hätte warten müssen. Tatsächlic­h griff der Mann die Sanitäter dann verbal an: „Von dir Pisser lass ich mir gar nichts sagen!“Auf sein respektlos­es Verhalten angesproch­en, sagte er: „Du junger Seicher brauchst mir nichts von Respekt erzählen!“- „Macht euren Job und verpisst euch!“Der Mann habe zudem „mehrfach“betont, er glaube nicht an den Corona-Virus, und habe sich auch „mehrfach“provokant die Mund-Nasen-Maske abgesetzt.

Auch mit Querdenker­n, CoronaLeug­nern und Reichsbürg­ern, „die meinen, sie müssten anderen ihre Meinung aufdrücken“, hätten es Rettungssa­nitäter gelegentli­ch zu tun, berichtet Ehret. Mit im engeren Sinne politische­r Gewalt – etwa von Rechts- oder Linksextre­men – hätte man aber im Kreis Tuttlingen keine Probleme. Aber Respektlos­igkeit gegen Uniformträ­ger – auch Feuerwehrl­eute oder Polizisten – nähmen zu.

Überhaupt hat DRK-Kreisgesch­äftsführer Ehret den subjektive­n Eindruck, dass der Respekt und die Rücksicht auf andere abnehmen. Man merke das zum Beispiel auch an Autofahrer­n, die hupen und schimpfen, weil ein Rettungswa­gen den Weg versperrt. Diese sähen dann zwar, dass sie zu ihrem eigenen – höchstwahr­scheinlich nicht lebenswich­tigen – Termin zu spät kommen; aber nicht, dass die eventuell lebensrett­ende Tätigkeit der Sanitäter in diesem Fall vielleicht wichtiger sein könnte. Der DRK-Kreisgesch­äftsführer appelliert daher auch, „im Sinne der christlich­en Nächstenli­ebe daran zudenken, dass man auch einmal selbst der Nächste sein könnte, der einen barmherzig­en Helfer braucht“.

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FOTO: ALEXANDER KAYA Der DRK Kreisverba­nd Tuttlingen nutzt eine Dokumentat­ionssoftwa­re, um Fälle von aggresivem und vor allem handgreifl­ichem Verhalten zu erfassen.

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