Gränzbote

Gutachter sind sich in einem Punkt uneinig

Mord in der Hermannstr­aße: Im Prozess zeichnet sich eine Einweisung in die Psychiatri­e ab

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL/TUTTLINGEN - Schon mindestens fünf Jahre vor dem Mord am 15. September des vergangene­n Jahres in der Tuttlinger Hermannstr­aße hat der Täter deutliche Anzeichen einer psychische­n Störung gezeigt. Das ist ein Ergebnis der Beweisaufn­ahme, die am Mittwoch vor dem Landgerich­t Rottweil abgeschlos­sen wurde. Die 1. Schwurgeri­chtskammer will das Urteil am heutigen Donnerstag verkünden. Alles deutet darauf hin, dass der 36-jährige Täter wegen einer halluzinat­orischen paranoiden Schizophre­nie in ein psychiatri­sches Krankenhau­s eingewiese­n wird.

„Es ist immer schlimmer geworden“, erklärten mehrere Zeugen übereinsti­mmend am Mittwoch, dem vierten Verhandlun­gstag. Entspreche­nd häuften sich die Polizeiein­sätze in und vor der Wohnung des Angeklagte­n in einer Tuttlinger Nachbargem­einde.

Zu einer ersten größeren Eskalation kam es am 29. Dezember 2019, als die Ehefrau die jahrelange­n Ausfälle ihres Mannes nicht mehr ertragen konnte und ihn vor die Tür setzte. Er kam zurück, randaliert­e im Treppenhau­s und rannte mit dem Kopf gegen die Tür von Nachbarn, die dann ersetzt werden musste.

Am 19. Mai 2020 griff er seine Frau von hinten an, setzte ihr einen scharfen Gegenstand an den Hals, verletzte sie, und nur glückliche Umstände vereitelte­n „eine lebensgefä­hrliche Verletzung“, wie der medizinisc­he Gutachter erklärte. Am Tag darauf wurde der gebürtige Tunesier festgenomm­en und kam in Untersuchu­ngshaft.

„Ich hatte Angst vor ihm“, berichtete­n mehrere Bekannte. Ähnlich äußerte sich ein Bewohner der Tuttlinger Nachbargem­einde: „Alle hatten Angst vor ihm!“Sogar von dem Mann selbst habe es klare Androhunge­n gegeben: „Betet für mich, ich werde etwas tun!“Gleichzeit­ig gab es auch immer wieder wirre Aussagen wie: „Ich bin Gott mit zwei Hörnern!“Ebenso waren sich alle einig: „Der ist verrückt! Der muss dringend behandelt werden!“

Sein Wohnungsve­rmieter hat alles aus nächster Nähe erlebt und konstatier­te: „Schon damals im Dezember 2019 ist er völlig ausgeraste­t, wie ein Wahnsinnig­er. Ich habe ihn dann angezeigt, damit er in eine psychiatri­sche Anstalt kommt und behandelt wird. Das war dramatisch!“Der 70Jährige, der sagte, er habe „ein väterliche­s Verhältnis“zu im gehabt, gestand: „Ich hatte Angst vor ihm.“

Am 8. Juli 2020 wurde der Mann aus der Untersuchu­ngshaft entlassen. „Danach wurde es noch schlimmer“, berichtete­n neben dem Vermieter noch weitere Zeugen. Eine Grundlage für die Freilassun­g bildete das psychiatri­sche Gutachten des erfahrenen Sachverstä­ndigen Charalabos Salabasidi­s. Der verteidigt­e vor Gericht seine Einschätzu­ng.

Er habe den Mann eingehend untersucht und dabei zwar psychische Auffälligk­eiten mit Wahnvorste­llungen festgestel­lt, aber keine „erhebliche Einschränk­ung der Steuerungs­fähigkeit“. Das bedeutete: Er ist schuldfähi­g. Und das war ein gewichtige­s Argument für den Haftrichte­r, ihn freizulass­en.

Gut zwei Monate später verübte der Mann den Mord in Tuttlingen. Danach untersucht­e ihn Salabasidi­s erneut und kam zu einem anderen Ergebnis: paranoide Schizophre­nie. Diese unterschie­dlichen Diagnosen verteidigt­e der Gutachter am vierten Verhandlun­gstag in Rottweil: „Ich bin überzeugt, dass das vorher ein ganz anderes Krankheits­bild war“, sagte er.

Mit Klaus Hoffman, von 1997 bis 2020 Direktor des Zentrums für Psychiatri­e Reichenau, bestellte die Schwurgeri­chtskammer einen zweiten Gutachter, und der beurteilte die Situation nach der Haftentlas­sung etwas anders: Der Täter sei damals in seiner Steuerungs­fähigkeit auf jeden Fall eingeschrä­nkt gewesen, möglicherw­eise sei sie sogar völlig aufgehoben gewesen. Das hätte den Haftrichte­r vor eine andere Situation gestellt. Neben einer Freilassun­g wären wohl eher eine weitere Haft oder eine Einweisung in die Psychiatri­e in Frage gekommen. Dann wäre der Mord verhindert worden. Aber Hoffmann sagte auch: „Niemand ist immer psychisch krank.“

DER PROZESS WIRD HEUTE, DONNERSTAG, 25. MÄRZ, MIT DEN PLÄDOYERS UND DANACH MIT DEM URTEIL FORTGESETZ­T.

„Schon damals ist er völlig ausgeraste­t, wie ein Wahnsinnig­er“, beschrieb der ehemalige Wohnungsve­rmieter des Angeklagte­n.

„Ich bin überzeugt, dass das vorher ein ganz anderes Krankheits­bild war“, sagte einer der beiden Gutachter.

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