Moralische Instanz ist weg
Der moralische Anspruch einer Institution bewahrt sie nicht vor Korruption in den eigenen Reihen. Man erinnere sich nur an den gewaltigen Skandal im Europarat, den vor zehn Jahren die Denkfabrik ESI aufdeckte. Systematisch hatte Aserbaidschan Abgeordnete gekauft – auch Abgeordnete des deutschen Bundestages waren damals betroffen und in die Affäre verwickelt. Konsequenzen gab es jedoch kaum, obwohl im Lauf der Jahre immer neue prominente Namen hinzu kamen.
Nun hat es das Europaparlament getroffen. Zunächst hatten die Personalpolitik und einige Investitionsentscheidungen der neuen konservativen Präsidentin Roberta Metsola einen Schatten auf die Institution geworfen. Vonseiten der Sozialisten hörte man nur verhaltene Kritik an der Italienerin – als hätte die Fraktion zu dem Zeitpunkt bereits geahnt, dass in ihren eigenen Reihen viel drastischere Verfehlungen zu finden wären. Nun steht mit der griechischen Parlamentsvizepräsidentin Eva Kaili eine ihrer führenden Politikerinnen im Verdacht, als bezahlte Lobbyistin für das Emirat Katar gearbeitet zu haben.
Das Europaparlament muss nun die Immunität von ihr und möglichen weiteren Verdächtigen sofort aufheben und so dafür sorgen, dass die Korruptionsvorwürfe gegen Abgeordnete aus den eigenen Reihen aufgeklärt werden können. Katar begünstigende Entscheidungen müssen auf Eis gelegt werden, bis das Einfluss- und Korruptionsgeflecht lückenlos entwirrt ist. Vor allem die ebenfalls verwickelten italienischen Abgeordneten im sozialistischen Lager müssen sich fragen lassen, wie sich ein derartiger Skandal ausbreiten konnte, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.
Die vom Europaparlament wegen Rechtsstaatsverstößen gegeißelten Regierungen Ungarns und Polens wittern nun Morgenluft. Sie wollen sich nicht von Abgeordneten an den Pranger stellen lassen, die ihr eigenes Haus nicht in Ordnung halten können. Hierin liegt ein viel größeres Problem für die EU als in den nun zutage geförderten unsauberen PRMethoden des Emirats am Golf. Ungarns Premier Victor Orbán hat gerade erst vorgeführt, wie er seine Amtskollegen und die EU-Kommission mit dem Veto zur Ukrainehilfe und zur Steuerreform erpressen kann. Bislang war das Parlament in diesen Fällen die mahnende moralische Instanz. Sie fehlt nun.