150 Testfahrer für eine neue Trasse
Seit Sonntag rollen Züge regulär über die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Leser der „Schwäbischen Zeitung“nutzten am Tag davor die Gelegenheit zu einer Probefahrt und fällen ein einhelliges Urteil.
ULM - Begeisternd. Beeindruckend. Sensationell. Keine Beschreibung scheint zu groß, kein Wort zu stark zu sein. Die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm fasziniert Eisenbahn-Vielfahrer, Technikfreunde und Anwohner gleichermaßen. Zumindest diejenigen, die sich bei der „Schwäbischen Zeitung“für eine Testfahrt beworben haben.
150 Plätze hat die „Schwäbische Zeitung“für interessierte Leser angeboten, die die neue Trasse einen Tag vor Beginn des Regelbetriebs kennenlernen wollten, auf einer Testfahrt von Ulm nach Stuttgart und wieder zurück. 450 Leser haben sich gemeldet, um einen oder zwei Plätze zu bekommen. Diejenigen, die ein kostenloses Ticket ergattert haben, sind voll des Lobes. Böse Worte über Unpünktlichkeit und ausfallende Züge gibt es allenfalls am Rande an diesem Samstagnachmittag. Die Deutsche Bahn hat ihren VorzeigeZug nach Ulm geschickt, den sogenannten Kanzler-ICE. Um 13.15 Uhr rollt er – pünktlich – an Gleis 1 des Ulmer Hauptbahnhofs ein.
Annegret Lahr hat nicht lange überlegen müssen, ob sie mitfahren will. „Ich habe sofort eine Mail geschrieben“, sagt die Laupheimerin, die mit ihrem Partner Martin Ambacher zur Testfahrt angetreten ist. „Mein Vater war Bundesbahner, wir hatten kein Auto und sind immer Bundesbahn gefahren“, erzählt sie. Die Bundesbahn gibt es längst nicht mehr, die Entwicklung des Schienenverkehrs verfolgt Annegret Lahr aber weiter mit großem Interesse. 2011 bei der Volksabstimmung habe sie für Stuttgart 21 gestimmt. „Vor allem damit der Stuttgarter Flughafen für uns aus Laupheim schneller erreichbar ist, das war oft eine Katastrophe“, erzählt sie. Angesichts der aus dem Ruder gelaufenen Kosten für die Umgestaltung des Stuttgarter Bahnknotens hegt sie inzwischen allerdings zumindest Zweifel daran, ob das Geld gut angelegt ist.
Die Neubaustrecke wird Annegret Lahr in Zukunft wohl häufiger nutzen, die Enkel leben in Berlin. Eines bedauert die langjährige Eisenbahnfahrerin aber: „Man sieht nur Tunnel, Böschungen, Lärmschutzwände“, sagt sie und erinnert sich an Bahnfahrten beispielsweise entlang des Rheins mit schönen Aussichten auf den Fluss, auf Dörfer und Burgen. „Sightseeing ist nicht mehr möglich, es geht nur darum, schnell von A nach B zu kommen.“
Wie um das zu bestätigen, verkündet einer der vom Verein Bahnprojekt Stuttgart-Ulm entsandten Zugbegleiter: „Wir haben nun unsere
Höchstgeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern erreicht.“Es ist jene Geschwindigkeit, auf die die Strecke ausgelegt ist. Sie spart zwischen Stuttgart und München 15 Minuten Zeit und ermöglicht nach Angaben
der Deutschen Bahn so erst den Deutschlandtakt, der die großen Metropolen des Landes eines Tages im Halbstundentakt verbinden soll.
Horst Fischer weiß, wie sich Geschwindigkeit anfühlt – der ehemalige Bundeswehrangehörige hat Tiefflüge im Hubschrauber erlebt. „Da nimmt man die Geschwindigkeit stärker wahr als bei dieser Eisenbahnfahrt. Hätte ich die Information nicht gehabt, hätte ich nicht geglaubt, dass wir so schnell sind“, sagt er. Fischer kommt aus Laupheim. Für die dort stationierten Bundeswehrhubschrauber war er als Techniker zuständig. Die Bahn sei für ihn technisch genauso faszinierend wie die Fliegerei, betont er und fügt hinzu: „Das ist nicht nur eine höfliche Antwort, das sind Tatsachen.“Schon der ICE selbst sei „ein Wunderwerk in der Beschleunigung“, die Bahnstrecke „noch sensationeller als der Zug selbst“. Als Beispiel nennt er die Technik an den Eingängen der Tunnel: Sogenannte Sonic-Boom-Bauwerke – Öffnungen am Tunnelportal – sorgen für weniger Druck auf die Eisenbahnwagen und die Ohren der Passagiere. Der Knalleffekt, der sonst entsteht, wenn ein Zug schnell in einen Tunnel fährt, wird vermieden.
Die Fahrt ist für viele Menschen im Zug etwas Besonderes. Da ist zum Beispiel Vincent Linder aus Bad Waldsee, der wie gebannt aus dem Fenster schaut, die Handykamera stets in der Hand. Vincent wird kommende Woche sieben Jahre alt. Zum Geburtstag hat er sich eine Fahrt in einem schnellen ICE gewünscht, erzählt seine Mutter Carina Linder, die schon drauf und dran war, eine Fahrkarte nach Mannheim zu buchen – zwischen Stuttgart und Mannheim ist die Schnellfahrstrecke schließlich schon seit Jahren in Betrieb. Das Angebot zur Testfahrt auf der neuen Trasse kam da wie gerufen. Für Vincent, sagt seine Mutter, geht es vor allem um eines – um die Geschwindigkeit.
Da ist auch Heidrun Fink, die ohne jede Einschränkung von einem „Jahrhundertereignis“spricht. Das um so mehr, da sie in Merklingen wohnt. Die Gemeinde im Alb-Donau-Kreis profitiert in besonderer Weise von dem Mammutprojekt: Dort wurde der einzige Bahnhof entlang der neuen Trasse nachträglich in die Planungen eingefügt, eine ganze Region erhält so erstmals einen Schienenanschluss. Um Merklingen und Laichingen werden alle Busfahrpläne auf den neuen Bahnhof abgestimmt, von der neuen Anbindung ihrer Heimatgemeinde ist Heidrun Fink „total begeistert“. Bislang war es nie eine Option für die Pendlerin, mit dem Bus zur Arbeit nach Ulm zu fahren. Nun überlegt sie, ob sie die Bahn nimmt.
Und da ist Josef Weidelener aus Uttenweiler. 88 Jahre ist er alt, seit 40 Jahren saß er nicht mehr in einem
Zug. Damals gab es noch keinen ICE und praktisch keine Schnellfahrstrecken, „ein Unterschied wie Tag und Nacht“, sagt er. Angemeldet für die Fahrt hat ihn sein Schwiegersohn Harald Sinzig aus Bad Schussenried, der neben ihm sitzt. „Zuerst hat er es gar nicht geglaubt“, sagt der über die Nachricht, dass beide zusammen die neue Strecke testen dürfen. Als Autofahrer auf der A 8 hätte der Senior die Baustelle der Filstalbrücke immer mal wieder gesehen und die Fortschritte verfolgt. Dass er nun selbst über die Brücke fahren kann, findet Josef Weidelener „einmalig“.
Die Fahrt über die Filstalbrücke gilt als Höhepunkt auf der Strecke, es ist die dritthöchste Eisenbahnbrücke in Deutschland, 85 Meter hoch und 485 Meter lang. Streng genommen sind es sogar zwei parallel verlaufende Brücken, eine für jedes Gleis. Von der A 8 aus hat man einen guten Blick auf das Bauwerk und die Entwicklung der Baustelle. Nun ist die Brücke einsatzbereit.
„Wenn wir in den Boßlertunnel einfahren, sind es noch 120 Sekunden“, warnt der Zugbegleiter die Passagiere vor. „Dann haben Sie sieben Sekunden Zeit ein Foto zu machen, dann geht es wieder in den Tunnel.“Viele Gäste zücken schon im Dunkeln des Tunnels ihr Handy, halten es ans Fenster. „Jetzt!“, rufen gleich zwei Leute im Wagen, als der ICE ins Freie schießt. „Und was siehst’ jetzt?“, mosert ein anderer. „Oifach nix.“Tatsächlich behindern die Seitenwände der Brücke die freie Sicht ins Tal, über deren Rand lässt sich das Dorf Mühlhausen im Täle in der zunehmend verschneiten Alblandschaft nur kurz ausmachen, dann ist der Zug schon wieder im Tunnel.
Nimmt man alle zwölf Tunnel zusammen, verläuft die Hälfte der neuen Trasse unter der Erde. Gegner der Neubaustrecke, die auch am Vortag bei der offiziellen Einweihungsfeier am Ulmer Hauptbahnhof Flagge gezeigt haben, kritisieren das als ökologisch bedenklich. Der höhere Luftwiderstand in der Röhre führe dazu, dass die Züge doppelt so viel Energie brauchen wie auf freier Fläche. Außerdem verweisen sie darauf, dass die neue Trasse an der Alb steiler ist und insgesamt einen größeren Höhenunterschied aufweist als die bisherige. Für das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 ist die jetzt eingeweihte Trasse daher ein „Klimaskandal“– was die Bahn und auch der grüne Landesverkehrsminister freilich ganz anders sehen.
Manfred Bemetz verfolgt die Geschehnisse rund um Stuttgart 21 und Neubaustrecke vor allem mit Neugier. „Ich bin ein großer Eisenbahnfan,
ich habe schon öfters Führungen am Stuttgarter Bahnhof mitgemacht und mir den Bauablauf angeschaut“, sagt der Wangener. Auf dem Klapptisch vor seinem Sitz hat er die Streckenkarte aufgeklappt, die beim Einstieg an die Fahrgäste verteilt worden ist. Darauf ist der Verlauf der Trasse detailliert dargestellt, mit Tunneln, Brücken, Kilometerzahlen und Höhenprofil.
Er sei Techniker von Beruf und finde schon von daher „höchst interessant, wie das alles entsteht“, erzählt Manfred Bemetz. Geschäftlich sei er oft mit der Bahn unterwegs gewesen, und das eigentlich immer gern, jedenfalls dann, wenn es keine Ausfälle oder Verspätungen gab. Der Allgäuer besucht öfters seine Tochter in Esslingen und kennt daher die alte Strecke durchs Filstal zur Genüge, dort habe die Bahn schon sehr „gebummelt“, sagt er. Einen Wunsch an die Bahn hat er auch: Die Strecke zwischen Kißlegg und Aulendorf gehöre elektrifiziert, findet er, was das württembergische Allgäu besser an die Südbahn anbinden würde. Und ganz grundsätzlich: „Es dürfte keine Bahn ohne Strom mehr geben.“Davon ist Deutschland noch weit entfernt, daran ändert auch die Neubaustrecke wenig.
Die Testfahrt ist beendet, der Regelbetrieb beginnt. Seit Sonntag werden die ICE-Linien München–Karlsruhe, München–Dortmund und München–Berlin nicht mehr durch das Filstal geführt, sondern jeweils im Zwei-Stunden-Takt über die Neubaustrecke. Dazu kommen einzelne Züge wie die neue ICE-Direktverbindung München–Saarbrücken. Und der laut Bahnchef Richard Lutz „schnellste Regionalzug Deutschlands“zwischen Ulm, Merklingen und Wendlingen. In Städten an der alten Trasse wie Göppingen werden dagegen immer weniger Fernzüge halten, dafür dürfte der Güterverkehr zunehmen.
Und in Bayern gehen die Planungen weiter: Auch zwischen Ulm und Augsburg sollen Züge einmal mit 250 Stundenkilometern auf einer neuen Trasse durchs Land fahren können. So weit wie in Baden-Württemberg ist man in Bayerisch-Schwaben aber noch lange nicht: Bis 2025 will die Bahn sich auf einen bevorzugten Streckenverlauf festlegen. Wann dort erstmals Züge auf neuen Gleisen fahren können, wagt im Moment noch niemand zu sagen.