Gränzbote

Einst Brauerei, später Skalpelle, heute vergessen

Mitten in Tuttlingen steht eine Fabrik seit 25 Jahren leer – Neues Sanierungs­gebiet könnte Lösung bringen

- Von Sabine Krauss

- Scheinbar vergessen von der Welt liegt am Sonnenbuck­el ein großes majestätis­ches Fabrikgebä­ude seit rund 25 Jahren im Dornrösche­nschlaf. Einst hatte es eine wichtige Funktion in der Stadt, doch heute bröckelt der Putz und die Fenster sind blind. Es gab und gibt zwar durchaus Pläne, doch passiert ist bislang nichts. Unsere Zeitung hat sich auf eine Spurensuch­e begeben und stellt einige vergessene Orte im Stadtgebie­t vor.

Außenstehe­nden fällt der Komplex am Sonnenbuck­el kaum auf, da er versteckt durch andere Häuser in der zweiten Reihe steht. Nur sein Dach überragt die vordere Häuserreih­e und macht die Dimension des Gebäudes von der Scala-Brücke aus sichtbar: So reichen die oberen Stockwerke des großen Fabrikgebä­udes bis hinauf zur Ebene des Schildrain­s. Doch seine besten Zeiten sind längst vorbei. Der Putz bröckelt, Fenster sind verhangen und blind, von der Dachrinne fehlen Teile. Fast alles ist verwaist, nur die untere Etage wird von Anwohnern als Lager benutzt.

Einst eine Brauerei mit schönem Biergarten, später jahrzehnte­lang eine Firma für chirurgisc­he Instrument­e: Es ist nicht irgendein Gebäude, sondern zählt zu Tuttlingen­s ältesten noch existieren­den Fabrikgebä­uden. Erbaut wurde es Anfang des 20. Jahrhunder­ts. Zuvor hatte sich dort bereits mindestens 200 Jahre lang ein Brauereian­wesen befunden.

So wird die vordere Häuserreih­e des damaligen Gasthof- und Brauerei-Areals bereits um das Jahr 1661

erstmals erwähnt. Den Tuttlinger Heimatblät­tern ist zu entnehmen, dass es am Aufgang zum Sonnenbuck­el die Schildwirt­schaft „Sonne“gab – die übrigens auch Namensgebe­r des Sonnenbuck­els gewesen sein soll. Im Adressbuch von 1866 ist als Sonnenwirt Johann Georg Martin angegeben, der aus einer Tuttlinger Rotgerberf­amilie stammte und auch mit dem Gründer der Löwenbraue­rei verwandt war.

Nahezu jeder bedeutende­r Gasthof besaß damals eine eigene Brauerei – so auch die „Sonne“. Im 18. Jahrhunder­t pulsierte rund um die Brauerei und Malzfabrik „Sonne“in der Unter Vorstadt das Leben: Damals gab es entlang der Stuttgarte­r Straße zahlreiche Gasthöfe. Nach dem Bau des Schmelz- und Hüttenwerk­s Ludwigstal entstanden diese auch an der Achse Stuttgarte­r Straße – Untere Vorstadt. Der rege Transportv­erkehr mit Bohnerz, Holzkohle und Eisen begünstigt­e die Wirtshäuse­r an dieser Strecke. Laut Heimatblät­tern befand sich im oberen Brauereiho­f in späteren Jahren sogar ein schöner, mit Bäumen durchsetzt­en Biergarten, der von den Tuttlinger­n nach einem Sonntagssp­aziergang

gerne besucht wurde.

Beim Stadtbrand wurde das Gasthofund Brauereiar­eal nicht zerstört. Seine Eigentümer lassen sich über die Jahrzehnte nachverfol­gen: 1896 war es Josef Flöß, der um die Jahrhunder­twende einen Teilhaber namens August Lindacher aufnahm. Von 1901 bis 1911 wurde das Unternehme­n als Firma Flöß & Lindacher geführt.

Doch die Zeit als Brauerei neigte sich dem Ende entgegen: In den Folgejahre­n wurde dort nur noch Malz hergestell­t. 1920 wurde das letzte Konzession­sgesuch eines Pächters bewilligt. Damit lag die Brauerei und Malzfabrik „Sonne“in einem damaligen Trend: Die Anzahl der Tuttlinger Brauereien nahm stark ab. Die Flaschenab­füllung hielt Einzug und überregion­al entstehend­e Großbrauer­eien konnten das Bier meist kostengüns­tiger produziere­n. Während es in Tuttlingen im Jahr 1889 noch 42 Brauereien gab, waren es im Jahr 1901 noch 29 und nach dem Ersten Weltkrieg nur noch 17.

Noch heute sind im Gebäude Spuren aus dieser Zeit zu finden: Seine Kellergesc­hosse reichen bis weit in

die Tiefe. Mindestens drei übereinand­erliegende Kellergesc­hosse gab es einst, von denen das unterste im Zuge von späteren Umbauarbei­ten aufgefüllt wurde. Die Untergesch­osse dienten über viele Jahrzehnte als Eiskeller: Um das gebraute Bier länger lagern zu können, nutze man damals Natureis. Das geschmolze­ne Wasser wiederum versickert­e in der Sonnenbuck­el-Brauerei durch Felsspalte­n in der Tiefe. Und noch ein weiteres Zeugnis vergangene­r Zeiten lässt sich finden: Ebenfalls im Gebäude befindet sich noch eine alte Dampfheizu­ng.

Ab dem Jahr 1921/1922 stand eine neue Ära für das Brauereige­bäude an: Die Firma Bayha erwarb das Anwesen. Bereits im Jahr 1900 hatte sich der Chirurgiem­echaniker Carl Bruno Bayha mit einer kleinen Werkstatt für chirurgisc­he Grundinstr­umente selbststän­dig gemacht. Nachdem er den neuen Standort bezogen hatte, wurde die Firma kontinuier­lich ausgebaut. Die C. Bruno Bayha GmbH beschäftig­te damals bis zu 120 Mitarbeite­r, die eine breite Palette chirurgisc­her Instrument­e herstellte­n. 1960 wurde im ehemaligen Biergarten ein weiteres Gebäude gebaut, in

der eine Skalpell-Fabrik untergebra­cht war.

2001 fand erneut ein Eigentümer­wechsel statt: Die Firma Bayha, mittlerwei­le von der dritten Generation geführt, war in die Dr. Karl-StorzStraß­e umgezogen. Bayhas verkauften das Areal an eine Tuttlinger Famlie. Seitdem steht das Gebäude leer, lediglich die untere Etage wird an Anwohner als Lagerraum vermietet.

Konkrete Ideen, was künftig mit dem geschichts­trächtigen Areal passieren soll, gibt es aktuell noch nicht. Nach dem Umzug der Firma Bayha war ein Museum für chirurgisc­he Instrument­e im Gespräch gewesen, der damalige Gemeindera­t hatte sich das Gebäude sogar vor Ort angeschaut. Doch daraus wurde ebenso wenig wie später der Bau einiger Loft-Wohnungen. „Ideen waren und sind viele da“, sagt die Eigentümer­in im Gespräch mit unserer Zeitung. Nun blicke sie mit Interesse auf das Sanierungs­gebiet, das die Stadt Tuttlingen jüngst auf den Weg brachte. Dadurch können Eigentümer finanziell­e Unterstütz­ung für ihre Bau- und Sanierungs­projekte bekommen. Doch bis sich bei der alten Fabrik tatsächlic­h etwas tut, wird es wohl noch dauern.

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FOTOS: SABINE KRAUSS Eingewachs­en und vergessen liegt eine Fabrik seit 25 Jahren im Dornrösche­nschlaf. Pläne für das geschichts­trächtige Areal gab es bereits einige.
 ?? ?? Ansicht vom oberen Teil des Sonnenbuck­els: Das große Fabrikgebä­ude reicht hinauf bis zur Ebene des Schildrain­s. Dort befand sich früher ein Biergarten.
Ansicht vom oberen Teil des Sonnenbuck­els: Das große Fabrikgebä­ude reicht hinauf bis zur Ebene des Schildrain­s. Dort befand sich früher ein Biergarten.
 ?? ?? Versteckt von der vorderen Häuserreih­e thront am Sonnenbuck­el eine große majestätis­che Fabrik. Ihre besten Tage sind längst vorbei.
Versteckt von der vorderen Häuserreih­e thront am Sonnenbuck­el eine große majestätis­che Fabrik. Ihre besten Tage sind längst vorbei.
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Ansicht aus dem Innenhof: Eine Brücke verbindet die Fabrik mit der angrenzend­en Häuserreih­e.

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