„Wir sind in der Bringschuld und müssen wieder Begeisterung erzeugen“
Bundestrainer Hansi Flick über seine Erkenntnisse nach dem Vorrunden-Aus, einen möglichen Umbruch in der Nationalmannschaft und fehlende Unterstützung der Politik in der „One Love“-Debatte
(SID) - Beim Finale zwischen Argentinien gegen Frankreich blieb Hansi Flick nur die Rolle des TVZuschauers. Dabei hatte der Bundestrainer vor der WM selbst den Titel als Ziel ausgegeben. Stattdessen war für die deutsche Nationalmannschaft schon nach der Vorrunde Schluss. Im Interview spricht der 57-Jährige über seine Enttäuschung, die Zukunft von Thomas Müller und Manuel Neuer und den fehlenden Fan-Zuspruch in Deutschland.
Herr Flick, wie geht es Ihnen zwei Wochen nach dem WM-Aus?
Natürlich ist die Enttäuschung noch da, gerade wenn man die Spiele sieht. Man denkt schon: Da hätten wir auch sein können. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass wir frühzeitig ausgeschieden sind. Es lässt sich leider nicht mehr ändern und es ist sehr, sehr schade.
Sind Sie Ihr Amt betreffend ins Grübeln geraten?
Nein. Es war für mich nie ein Thema, zurückzutreten. Ich bin da absolut überzeugt. Und die Kommunikation und Zusammenarbeit mit Bernd Neuendorf und Aki Watzke sind sehr gut, wir haben eine gute Basis.
Ihre Erklärung zur Trennung von Oliver Bierhoff erweckte einen anderen Eindruck.
Da ist viel hineininterpretiert worden. Mir ging es nur darum, ihn noch mal zu würdigen. Wir sitzen hier im DFBCampus, den es ohne ihn nicht gäbe. Unser Verhältnis war immer geprägt von Loyalität, Wertschätzung und totalem Vertrauen. Das wollte ich ausdrücken.
War sein Abschied für einen Aufbruch notwendig?
Das weiß ich nicht. Oliver hat dem deutschen Fußball sehr viel gegeben. Er wäre sicher kein Hindernis gewesen, um wieder erfolgreich zu sein.
Wie weit sind Sie mit der fachlichen Analyse der WM?
Wenn man die Daten übereinanderlegt, waren wir eine der Mannschaften, die die meisten Torchancen herausgespielt hat. Aber uns hat die Effizienz gefehlt. Defensiv war es nur Durchschnitt, da hatten wir zu wenig Kompaktheit. Die Gegner haben dies eiskalt ausgenutzt, sie hatten die Effizienz, die uns fehlte. Wir hatten nicht die Konstanz über 90 Minuten, unseren Matchplan zu 100 Prozent durchzuziehen. Das benötigen wir aber für die Zukunft, das ist enorm wichtig. Fehler wie in den letzten 30 Minuten gegen Japan darf man sich bei einer WM auf diesem Niveau nicht leisten.
Wie haben Sie auf den Rest des Turniers geschaut? Wie ist dort Erfolg entstanden?
Wenn man sich Argentinien anschaut, wenn man Frankreich sieht – das sind
Mannschaften, die eher defensiv agieren. Marokko hat gegen Frankreich sehr gut Fußball gespielt, trotzdem verteidigen sie mit viel Leidenschaft. Diese Energie, diese Passion hat man bei uns im Spanien-Spiel erkannt. Das ist die Grundvoraussetzung, um erfolgreich ein Turnier zu spielen.
Hätte die DFB-Elf mit Argentinien und Frankreich mithalten können?
Wir haben schon ganz oft gezeigt, dass wir uns gegen Mannschaften wie Italien, England oder die Niederlande einen Tick leichter tun. Aber es ist wichtig, dass wir gegen jeden Gegner die Konstanz, die Disziplin haben, um alles zu 100 Prozent abzurufen, über die gesamte Spielzeit.
Ist es bei dieser WM besonders wichtig gewesen, eingespielt zu
sein, auch mit einer festen Taktik? Die Idee, wie wir Fußball spielen wollen, haben wir durchgezogen. Natürlich kann man sagen, dass wir in der Viererkette verschiedene Spieler auf den Positionen hatten. Aber es ist so, dass alle die Qualität haben, um da spielen zu können. Und: Wenn wir vor dem gegnerischen Tor mehr aus unseren Möglichkeiten gemacht hätten, würden wir uns über diese Dinge nicht unterhalten.
Trotzdem: Hätten Sie Ihre erste Elf nicht früher finden müssen?
Das sind keine Ausreden, aber wir hatten viele Spiele, in denen uns einige Spieler wegen Corona gefehlt haben oder aus anderen Gründen ausgefallen sind. Im Oman wollten wir eine Halbzeit mit der ersten Elf spielen und dann durchwechseln. Das ging aber
nicht, weil wir nur sechsmal auswechseln durften. Wir haben uns dann für die Belastungssteuerung entschieden.
Was müssen Sie persönlich künftig anders machen?
Wir sind in der Bringschuld. Wir müssen wieder Begeisterung erzeugen. Jeder Spieler und jeder Trainer möchte von den Fans unterstützt werden. Aber wir wissen, dass die Grundstimmung, die durch die letzten Turniere ohnehin gedrückt war, durch unsere Vorstellung in Katar nicht besser geworden ist. Das wollen wir ändern. Wir wollen attraktiven Fußball zeigen und den Fans beweisen: Wir haben es kapiert. Wir sind stolz, für Deutschland spielen zu dürfen. Und wir freuen uns auf die Heim-EM. Jeder muss alles einbringen, um in jedem Spiel Topleistung zu zeigen.
Spüren Sie nicht auch eine gewisse Nationalmannschaftsmüdigkeit beim Publikum?
Ich würde gerne die Gegenfrage stellen: Haben wir in Deutschland alles dafür getan, dass sich die Menschen auf die WM freuen konnten?
Sie meinen, die WM wurde hierzulande zu sehr politisch aufgeladen?
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat sinngemäß gesagt: ,Der Fußball wird zu stark politisiert, unsere Spieler sollen sich auf den Fußball konzentrieren, Politik mache ich.’ Das wäre auch ein gutes Zeichen für uns gewesen. Die Stimmung gegen Katar war im Vorfeld wahnsinnig stark. Viele haben die Spiele geschaut, viele andere hatten Bedenken. Das Land war geteilt, und das ist schade, Fußball sollte ja verbinden. Ich fand es begeisternd, die Fans anderer Mannschaften zu sehen, die ihr Team bedingungslos unterstützt haben. Darauf sollte der Fokus auch bei uns wieder mehr liegen, dass wir für Deutschland möglichst erfolgreich Fußball spielen. Das ist unsere Aufgabe – es wäre schön, wenn man uns das zugesteht. Für die Politik sind andere ausgebildet.
Muss es einen Schnitt in der Mannschaft geben?
Eine Altersgrenze – das ist schwierig. Italien hat es vorgemacht mit Bonucci oder Chiellini, die haben im hohen Alter noch mal Topleistung abgerufen und sind Europameister geworden. Es geht um den Leistungsgedanken, der ist bei uns vorhanden. Trotzdem tut es einer Mannschaft gut, wenn frischer Wind reinkommt. Wir haben einige sehr talentierte junge Spieler. Darauf müssen wir einen Blick haben, weil es um die Zukunft geht. Wir haben bis zur EM eineinhalb Jahre Zeit und wollen dem einen oder anderen helfen, sich festzuspielen.
Haben Sie schon Signale älterer Spieler empfangen, die zurücktreten wollen? Von Thomas Müller etwa, der ja schon eine Art Abschiedsrede gehalten hat?
Ich werde die nächsten Tage versuchen, mit jedem Spieler in Ruhe zu sprechen, damit wir die WM abschließen können. Da werde ich auch mit Thomas Müller reden. Wir haben zwar schon kurz gesprochen, aber noch nicht im Detail.
Auch mit Kapitän Manuel Neuer?
Manuel ist erst mal verletzt. Das tut mir sehr leid, weil es nach der WM noch mal eine Situation ist, die für ihn nicht einfach ist. Für ihn ist es jetzt das Wichtigste, dass er wieder fit wird und zu alter Form kommt.
Ein Expertenrat soll Sie künftig unterstützen. Kritiker meinen angesichts der Besetzung, Sie schmorten da zu sehr im eigenen Saft.
Als Erstes muss man sehen, dass sie alle große Persönlichkeiten des deutschen Fußballs mit sehr viel Erfahrung sind, die genau wissen, worauf es ankommt. Ich finde es großartig, dass sie sich bereiterklärt haben, uns beratend zur Seite zu stehen. Das ist eine gute Wahl für den notwendigen Schulterschluss mit den Vereinen, weil klar ist, dass wir nur gemeinsam erfolgreich sein können. Es gibt außerdem noch einen zweiten Expertenkreis intern beim DFB mit Celia Sasic und Philipp Lahm, diese Kombination halte ich für sehr sinnvoll.
Was wünschen Sie sich für das neue Jahr?
Ich hoffe, dass alle Spieler, alle im Trainerteam und Betreuerstab gesund bleiben. Dass sie die Zeit über Weihnachten genießen, durchatmen und sich erholen können. Um dann zu reflektieren: Was will ich in Zukunft erreichen? Welche Dinge können wir ändern, um noch besser zu werden?