Das erste Weihnachten fern der Heimat
Eine ukrainische Familie berichtet über ihre Flucht und ihr Leben in Deutschland
Dass die ukrainische Familie Ighnatov Weihnachten 2022 in Deutschland feiern würde, war im vergangenen Jahr nicht zu ahnen. Doch als die Russen im Februar ihre Heimat angriffen, verließ Luba Ighnatov mit ihren beiden Töchtern Anna und Julia Hals über Kopf ihre Heimat. Heimat, das heißt: Lviw, eine Stadt nahe der polnischen Grenze, die gleich zu Beginn des russischen Angriffskrieges von Raketen beschossen wurde.
„Wir sind sofort nach den ersten Angriffen von meiner Mutter schon in der Früh um halb sechs alarmiert worden“, mit tränenvollen Augen erinnert sich Luba an die Entscheidung zur Flucht: „Die Sicherheit unserer Kinder und meiner Frau gingen vor. Da gab es keine Möglichkeit, lange zu überlegen“, so Sascha Ighnatov. Er selbst blieb vorerst in der Heimat, in der Annahme, dass der Krieg nicht lange dauern würde. „Damals dachten wir, dass die Welt diesen Krieg nicht zulässt und dass er bald zu Ende sein würde“, erinnert er sich an seine damalige Hoffnung. Die Trennung von Frau und Kindern sei sehr hart gewesen.
Zusammen mit ihrem Vater und den Töchtern machte sich Luba auf Richtung Deutschland. Zielort: Weil am Rhein, wo Verwandte leben. Unterwegs trafen sie in Polen auf zwei Männer, die als spontane Helfer aus Tuttlingen gekommen waren. „Sie lieferten Hilfsgüter und organisierten Transporte“, so Luba, deren Vater und Mutter selbst unermüdlich beim Roten Kreuz helfen. Man kam in Kontakt und tauschte die Telefonnummern aus. Eine schicksalhafte Begegnung, wie sich erst später zeigen sollte.
Denn: Heute lebt die Familie, nach langer Trennung, wieder vereint mit dem Vater Sascha in einer privat zur Verfügung gestellten Einliegerwohnung
in Seitingen-Oberflacht. „Wir sind unendlich dankbar für diese spontane Hilfsbereitschaft und überglücklich, dass wir hier als Familie zusammen in Sicherheit leben können“, betont Sascha. Doch lebe er als Mann fern der umkämpften Heimat auch in einer Art Zwiespalt. Einerseits sei er Patriot und wolle für sein Land kämpfen und sehe, wie seine Landsleute täglich ihr Leben riskieren. „Aber das Leben und die Sicherheit meiner Familie gehen vor.“Der ausgebildete Telekommunikationsfachmann und die Psychologin Luba haben sich mittlerweile so eingelebt, dass sie auf Arbeitssuche sind.
Doch: Wie kam die Familie aus
Lviw überhaupt nach SeitingenOberflacht? „Wir hatten einfach Glück“, so Luba. Nach einigen Tagen auf der Flucht habe sich einer der Helfer aus Tuttlingen gemeldet. „Er berichtete, dass in Tuttlingen eine zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der Ukraine eingerichtet worden sei. Hier bekomme man Hilfe“erinnert sich Luba. Damals sei man schon auf dem Weg Richtung Portugal gewesen, weil sich in Weil am Rhein keine Perspektive geboten habe. In Portugal könne man günstiger leben, so ihre Annahme. Zudem habe man dort Freunde und Bekannte.
„Wir waren gerade in Spanien, als sich der Helfer aus Tuttlingen über
Facebook gemeldet hat. Wir entschlossen uns wiederum spontan zur Rückkehr nach Deutschland“, berichtet Luba. Emotional und physisch angeschlagen sei man, ohne in einem Hotel zu übernachten, zurück nach Deutschland gefahren. Es sei für alle Stress pur gewesen. „Wir haben viel geschlafen und auch viel geweint“, erzählen die Geschwister Anna und Julia. Plötzlich getrennt vom Vater, der Großmutter und den geliebten Haustieren, habe sich Verzweiflung breit gemacht. Die Erwachsenen wechselten sich mit dem Fahren ab und waren in Sorge, ob das Geld noch für Benzin und Maut reichen würde. Zudem wuchs allmählich die Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht schnell zum Ende kommen würde.
Ein Lichtblick sei da die Ankunft Anfang März in Tuttlingen gewesen. „Wir wurden herzlich von dem Helfer empfangen, bekamen Frühstück und konnten uns frisch machen“, erinnert sich Luba. Dann ging es gleich zur zentralen Aufnahmestelle GAST in der Eisenbahnstraße, wo nach Corona-Tests die persönlichen Daten registriert wurden.
„Dann war es plötzlich wie ein Wunder für uns, als wir nur nach wenigen Stunden in der GAST die Nachricht bekamen, dass eine Familie aus Seitingen-Oberflacht eine Wohnung zur Verfügung stellen würde. Wir konnten und können bis heute unser Glück in dieser schweren Situation nicht fassen“, betonen Luba und Sascha mit Nachdruck. Sie seien ebenso dankbar wie gerührt von dieser Solidarität: „Hier sind wir in Sicherheit. Die Kinder können am Immanuel-Kant-Gymnasium zur Schule gehen. Aber im Grunde haben wir unsere Heimat verloren. Und letztlich auch unseren Glauben“, bedauert das Ehepaar eindringlich.
Erstmals feiert die Familie in diesem Winter die Feste nicht mehr nach dem gregorianischen Kalender. So kam der Nikolaus, wie in Deutschland üblich, am 6. Dezember zur Familie. Und nicht wie bisher nach heimatlichem Brauch erst am 17./18. Dezember. Auch Heiligabend wird erstmals am 24. Dezember gefeiert. Ein bisschen Normalität schimmert auf, wenn sich die jüngste Tochter über das bevorstehende Fest freut: „Wir haben uns sogar schon einen Tannenbaum in der Nachbarschaft reserviert“, sagt sie voller Vorfreude.
Die Zuversicht will sich Familie Ighnatov nicht nehmen lassen. „Jedoch glauben wir mittlerweile“, so Sascha kopfschüttelnd, „dass der Krieg nie komplett zu Ende sein wird.“