Katastrophale Lage in Kinderkliniken
Krisengipfel zeichnet erschreckendes Bild von der Situation in Baden-Württemberg
- Mit drastischen Worten haben führende Kindermediziner in Baden-Württemberg am Donnerstag bei einen Krisengipfel die aktuelle Situation in den Kliniken und Praxen geschildert. „Die Lage ist katastrophal“, sagte etwa Professor Christian von Schnakenburg, Vorsitzender des Verbandes Leitender Kinder- und Jugendärzte in BadenWürttemberg. „Kinder und Eltern erleiden bleibende gesundheitliche Schäden“, so Friedrich Reichert, Ärztlicher Leiter der Kindernotaufnahme am Stuttgarter Olgahospital. Zu dem virtuellen Treffen hatte Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) eingeladen. Er fordert vor allem von seinem Kollegen im Bund Karl Lauterbach (SPD) rasches Handeln.
Die aktuelle Infektionswelle
Derzeit erkranken viele Kinder an Atemwegsinfektionen. Besonders problematisch für Kleinkinder ist das RS-Virus. Dieses kann bei ihnen zu gravierenden Lungenproblemen führen. „In unseren Krankenhäusern hat sich eine erhebliche Zunahme von Infektionskrankheiten gezeigt, die ganz besonders die Kinder trifft“, sagte Lucha. Es gebe zwar Anzeichen dafür, dass der Höhepunkt der Infektionswelle mit dem RS-Virus überschritten sei. Das zeigten Modellierungen der Uniklinik Ulm. Auch der Wochenbericht des Robert-KochInstituts verzeichnet leicht sinkende Zahlen von Neuinfektionen. Doch die Zahl der neuen Grippeinfektionen steigen laut Lucha weiter exponentiell. „Hier müssen wir mit deutlich höheren Infektionszahlen als in den Jahren 2017 und 2018 rechnen, da die Grippewellen 2020 und 2021 wegen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie nahezu komplett ausgeblieben sind.“Außerdem verzeichneten die Normalstationen erstmals wieder leicht steigende Zahlen von Corona-Patienten.
Die Lage in den Kinderkliniken
Die Mediziner berichteten von den katastrophalen Folgen dieser Situation in ihren Häusern. Laut BadenWürttembergischer Krankenhausgesellschaft BWKG sind die Notaufnahmen völlig überlastet und verzeichnen 50 Prozent mehr Fälle als sonst zu dieser Jahreszeit.
„An 58 von 60 Tagen hatte ich zwölf Stunden in meiner Notaufnahme mehr Patienten als Kapazitäten vorhanden waren“, berichtete Reichert. Kinder müssten in der Notaufnahme übernachten, weil auf den Stationen kein Platz sei, die Wartezeiten seien immens. „Immer häufiger müssen wir sagen: Es wird schon gut gehen“, so Reichert. Doch es gehe keineswegs immer gut. Seit Jahren gebe es in Deutschland eine
Überlastung der Kindermedizin. Das führe dazu, dass planbare Operationen verschoben würden, bis ernsthafte Folgeschäden bei den Kindern einträten.
Derzeit finde faktisch Triage in vielen Notaufnahmen für Kinder statt, sagte Florence Junghanns, Fachärztin für Pädiatrie an der Uniklinik Ulm. Das heißt: Die Ärzte müssen auswählen, welches Kind ein Bett bekommt. Sie schilderte einen beispielhaften Fall: Zwei sechs Monate alte Säuglinge, einer mit einer RSV-Infektion, einer mit einem Magen-Darm-Infekt. Der eine bräuchte Sauerstoff, der andere Infusionen – beides nur auf Station möglich, aber dort war nur ein Bett frei.
„Wie erkläre ich den Eltern, dass ihr Kind den Platz nicht bekommt, dass sie zwei Stunden in der Notaufnahme beobachtet wird und dann nach Hause geschickt wird? Wie erkläre ich das dem Pflegepersonal?“,
so Junghanns. Die dauerhafte Überlastung zermürbe die Moral von Ärzten und Pflegekräften. In BadenWürttemberg sind laut Lucha von rund 400 belegbaren Intensivbetten für Kinder 88 frei.
Die Ursachen
Die Probleme seien seit Jahren bekannt, doch getan habe sich wenig, monierten die Experten. Schon 2021 hatten wir einen solchen Gipfel. Und schon damals haben wir gesagt: Wenn eine RSV-Welle auf eine ausgeprägte Influenzawelle trifft, kommt es zur Überlastung. Und das ist jetzt passiert“, so der Stuttgarter Kindermediziner Reichert. Die Kindermedizin sei chronisch unterfinanziert, der Mangel an Pflegekräften dramatisch – und dieser werde durch die krankheitsbedingten Ausfälle beim Personal weiter verschärft. Außerdem gebe es zu wenige Medizinstudienplätze, das wirke sich auch auf die Zahl der Fachärzte für Pädiatrie aus. Nach Angaben der Bundesärztekammer ist die Zahl der Klinikbetten für Kinder zwischen 1991 und 2020 um rund 43 Prozent gesunken – und das bei steigenden Fallzahlen.
Der Personalmangel hat verschiedene Ursachen. Die Pflegedirektorin der Uniklinik Freiburg Stefanie Biberstein nannte unter anderem eine fehlende Anzahl von Ausbildungsplätzen und bürokratische Hürden beim Einsatz von Pflegekräften aus dem Ausland. „Da gibt es leicht mal bis zu sechs Monate Verzug, bis alle Genehmigungen vorliegen“. Außerdem mache die hohe Belastung den Beruf zunehmend unattraktiv.
Das gilt auch für die Kinderarztpraxen. Die niedergelassenen Mediziner klagen über viel Bürokratie und ungerechte Finanzierung. „Wir können telefonische Beratung nicht abrechnen, dabei würde das die Praxen extrem entlasten“, sagt der Landeschef der niedergelassenen Pädiater Roland Fressle. Wie ihre ärztlichen Kollegen in anderen Fachrichtungen können die Mediziner nur eine gewisse Anzahl von Leistungen pro Monat abrechnen. Dieses Budget für Patientengespräche sei aber regelhaft ausgeschöpft, weil die Fallzahlen so hoch seien. „Dann arbeiten wir umsonst“, so Fressle. In der Folge fänden mittlerweile sehr viel Kinderärzte keine Nachfolger.
Die Maßnahmen des Landes
Minister Lucha betonte, man habe bereits einiges getan, um den Engpässen entgegenzusteuern. So seien die gesetzlich vorgeschriebenen Untergrenzen für Personal auf Kinderstationen temporär außer Kraft gesetzt. Sonst drohen den Häusern Geldstrafen, wenn sie den Betrieb mit zu wenig Schwestern und Pflegern aufrechterhalten. „Beim Thema Tempo müssen wir in der Politik allerdings besser werden, da gebe ich Ihnen recht“, so Lucha. Er sei derzeit mit dem Kultusministerium im Gespräch. Ziel müsse es sein, dass Schulen und Kitas nur in bestimmten Fällen ein ärztliches Attest verlangen, um die Kinderarztpraxen zu entlasten. Außerdem fordert Lucha diverse Maßnahmen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. So solle die Kinder- und Jugendmedizin besser finanziert werden – Maßnahmen dazu hatte der Bundesminister bereits angekündigt. Vieles davon wirke aber erst mittelfristig, so Lucha. Es seien weitere Sofortmaßnahmen nötig.
Dem SPD-Gesundheitspolitiker Florian Wahl reicht das alles nicht. Er fordert eine Rückholprämie für Ärzte und Pflegende, die nicht im Beruf arbeiten oder im Ruhestand sind. Außerdem sei es notwendig, die Telemedizin aufzustocken und mehr Videoberatung anzubieten.