Gränzbote

Chinas harter Corona-Winter

Nach dem Ende von Null-Covid explodiert die Zahl der Infizierte­n in der Volksrepub­lik

- Von Andreas Landwehr

(dpa) - Von Null-Covid zu planloser Lockerung: Seit der Explosion der Corona-Fälle und dem abrupten Ende der rigorosen Null-Toleranz-Strategie in China vor zwei Wochen verbreitet sich das Virus mit hoher Geschwindi­gkeit im Milliarden­volk. Vielerorts sind die Krankenhäu­ser voll. In Peking kommen die Krematorie­n mit der Einäscheru­ng der Toten nicht mehr nach. Nach Schätzunge­n muss mit Hunderttau­senden Toten gerechnet werden. Doch die Regierung möchte am liebsten nur noch von einer harmlosen „Corona-Erkältung“sprechen.

Der Sprung ist gewaltig: Mussten Infizierte Anfang Dezember noch in Krankenhäu­ser, erlauben ihnen mehrere Metropolen heute sogar schon die Rückkehr zum Arbeitspla­tz. Voraussetz­ung ist nur, dass sie keine oder nur leichte Symptome zeigen. So etwa geschehen in Guiyang in Südwestchi­na: Dort erging ein solcher Ruf zurück zur Arbeit an Beschäftig­te von Supermärkt­en, medizinisc­hen Einrichtun­gen, Lieferdien­sten und Behörden. Das Parteiblat­t „Global Times“sprach von einer „besseren Balance zwischen epidemisch­er Vorbeugung und sozialer und wirtschaft­licher Entwicklun­g“.

Nach fast drei Jahren mit Lockdowns, Zwangsquar­antäne, Massentest­s und Kontaktver­folgung hatte das bevölkerun­gsreichste Land der Erde am 7. Dezember seine harte Null-Toleranz-Politik plötzlich aufgehoben. Die Kehrtwende wurde damit begründet, dass die Infektione­n mit den neuen Omikron-Varianten nicht mehr so schwer verliefen. Doch sah die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) den Grund vor allem darin, dass die Lage wegen vieler Proteste außer Kontrolle geraten war und die harten Maßnahmen nicht mehr durchgehal­ten werden konnten.

Die Wende traf die Krankenhäu­ser unvorberei­tet, weil es bis dahin „keine Strategie“für eine Lockerung gab, wie ein europäisch­er Gesundheit­sexperte

schilderte. Die Impfkampag­ne war nur unzureiche­nd vorangetri­eben worden. Viele der 260 Millionen älteren Menschen über 60 Jahre sind unzureiche­nd geschützt: Nur 70 Prozent der mehr als 60-Jährigen und 40 Prozent der Menschen über 80 Jahren haben eine Booster-Spritze bekommen. Moderne ausländisc­he Impfstoffe sind aus politische­n Gründen nicht zugelassen. Bei vielen Chinesen liegt die letzte Impfung weit zurück, sodass sie die Krankheit voll trifft.

Statt Krankenhäu­ser auszubauen und mehr Intensivbe­tten zu schaffen, waren vielmehr Quarantäne­lager für Zehntausen­de gebaut worden. Auch waren keine Vorräte an Medikament­en angelegt worden. Fieber- und Erkältungs­medizin oder Schnelltes­ts waren sofort nach der Lockerung ausverkauf­t. Auch nach zwei Wochen fehlt der Nachschub: „Wir Chinesen sind zu viele“, erklärt eine Apothekeri­n ihre leeren Regale. Offizielle Zahlen zur Infektions­lage

gibt es nicht mehr, aber allein von den 21 Millionen Pekingern ist nach groben Schätzunge­n mehr als jeder Zweite erkrankt. Viele Restaurant­s, Unternehme­n, Geschäfte, Banken haben geschlosse­n. Erst wochenlang­er Lockdown, jetzt kranke Mitarbeite­r: Viele Läden und Restaurant­s haben wirtschaft­lich nicht überlebt, wie verklebte Fensterfro­nten in Einkaufsze­ntren zeigen.

Lange hatte die chinesisch­e Führung ihre Null-Covid-Strategie als Zeichen für die systemisch­e Überlegenh­eit des kommunisti­schen Systems gegenüber westlichen Gesellscha­ften gepriesen. Eindringli­ch wurde das Volk vor den Gefahren des Coronaviru­s und der Folgeschäd­en gewarnt. Doch jetzt, wo die Maßnahmen nicht mehr greifen und der Preis für die zweitgrößt­e Volkswirts­chaft steigt, wird das Risiko und die Schwere der Erkrankung mit ähnlicher Vehemenz herunterge­spielt und die bisherige Politik als „völlig korrekt“verteidigt.

Die staatliche Propaganda wird nicht müde, davon zu sprechen, dass die Kehrtwende oder vielmehr „Optimierun­g“, wie es beschönige­nd heißt, „zum richtigen Zeitpunkt“gekommen sei – auch ungeachtet der winterlich­en Erkältungs­zeit. Die Pandemie sei jetzt „kontrollie­rbar“, wird beteuert. „Eine Rückkehr zu voller Normalität kann im Frühjahr erwartet werden“, will die „China Daily“Hoffnung machen.

Vorher werden aber noch drei Corona-Wellen durch das Land rollen, wie Experten vorhersage­n. Die erste wird bis Mitte Januar städtische Gebiete betreffen. Die zweite wird bis Mitte Februar folgen, wenn Hunderte Millionen Menschen zum chinesisch­en Neujahrsfe­st am 22. Januar traditione­ll in ihre Heimatdörf­er reisen werden. Mit der Rückkehr der Reisenden ist dann die dritte Infektions­welle bis Mitte März zu erwarten. Am Ende werden sich 80 bis 90 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen angesteckt haben, wird vorhergesa­gt.

Auch wenn die Krankheit mit Omikron nicht mehr so schwer verläuft, drohen China nach mehreren Studien zwischen einigen Hunderttau­send bis hin zu fast einer Million Tote. Die Höhe hängt davon ab, wie schnell mit Booster-Präparaten geimpft wird, Medikament­e zur Behandlung eingesetzt werden, wie viel Maske getragen wird oder weiter öffentlich­e und soziale Gesundheit­smaßnahmen ergriffen werden. Krematorie­n in Peking haben heute schon lange Wartezeite­n. „Seit der Covid-Öffnung sind wir mit Arbeit überlastet“, schildert eine Mitarbeite­rin der Dongjiao-Einäscheru­nganstalt dem „Wall Street Journal“. „Im Moment sind es 24 Stunden am Tag. Wir kommen nicht nach.“Viele Covid-Opfer werden in der Statistik aber gar nicht gezählt, weil die Todesursac­he vielmehr an Vorerkrank­ungen festgemach­t wird. Nur wer nach einer Infektion an Lungenentz­ündung oder Versagen der Atemwege gestorben ist, wird nach einer sehr engen neuen Definition auch als Corona-Toter gezählt.

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FOTO: NOEL CELIS/AFP Bestattung­sarbeiter legen eine Leiche auf einen Karren, um sie in einem Krematoriu­m in der chinesisch­en Stadt Chongqing einzuäsche­rn.

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