Gränzbote

Entfremdun­g statt Euphorie

DFB-Team hat nicht nur auf dem Platz ein Problem – Bindung zu den Fans schwindet

- Von Jörg Soldwisch ●

BERLIN (dpa) - Beim Blick ins Land des Weltmeiste­rs dürften die Macher des deutschen Fußballs neidisch werden. Die teils chaotische, aber maximal euphorisch­e Triumph-Parade von Lionel Messi und Co. auf den Straßen Buenos Aires, begleitet von etwa fünf Millionen glückselig­en Argentinie­rn, war der emotionale Höhepunkt einer spürbaren Verbundenh­eit von Fans und Team während der WM in Katar. Das Kontrastpr­ogramm dazu war zweieinhal­b Wochen zuvor in Deutschlan­d zu sehen, als die Nationalsp­ieler nahezu unbehellig­t nach der WM-Rückkehr schnell und wortlos das Weite gesucht hatten.

Wenn das zweite WM-Vorrundena­us hintereina­nder nicht mal mehr Empörung auslöst, dann ist die Entfremdun­g zwischen Fans und Nationalma­nnschaft weit vorangesch­ritten. Laut einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Yougov hat bei 46 Prozent der Befragten das Interesse an der DFB-Elf zuletzt nachgelass­en. Schlechte Voraussetz­ungen für ein neues Sommermärc­hen bei der Heim-EM in anderthalb Jahren.

Das Hochgefühl der Weltmeiste­rschaft 2006 und des WM-Triumphs acht Jahre später ist längst einer Tristesse gewichen. Und die will der kürzlich gegründete Expertenra­t, der die Neuausrich­tung bestimmen soll, mit als Erstes angehen. „Wie gewinnen wir die Begeisteru­ng und die Liebe für die Nationalma­nnschaft zurück, für die wichtigste Mannschaft unseres Landes?“– das ist laut Rudi Völler eine entscheide­nde Frage für das siebenköpf­ige Gremium, dem der ehemalige Teamchef selbst angehört.

Mit Erfolg allein scheint der Riss nicht zu kitten. Schon in den Monaten vor der WM habe er gespürt, „dass da etwas verloren gegangen“sei, sagte Völler der „Sport Bild“. In Katar bestätigte sich dieses Bild. Bei anderen Teams habe er „massive Unterstütz­ung“gespürt, da sei „der Funke übergespru­ngen“, erzählte DFBPräside­nt Bernd Neuendorf. Und Karl-Heinz Rummenigge, der ebenfalls im Expertenra­t sitzt, berichtete fast neidisch von vor Ort: „Hier laufen Tausende Argentinie­r mit dem Messi-Trikot durch Doha.“Deutsche Fans sah man fast nur an Spieltagen, und auch dann eher dezent. Und zu Hause stimmten die Zuschauer mit der Fernbedien­ung ab: Die schwachen Quoten beunruhige­n nicht nur ARD und ZDF.

Die Spieler spürten die Ablehnung gegenüber dem umstritten­en Ausrichter, aber auch gegenüber dem Team selbst. „Es ist schon erschrecke­nd, wie viel Missgunst der Nationalma­nnschaft von der Öffentlich­keit in Deutschlan­d entgegenge­bracht wurde“, sagte Niklas Füllkrug der „Sport Bild“.

Er habe schon als Zuschauer nach dem WM-Aus 2018 das Gefühl gehabt, dass der DFB-Auswahl „teilweise eher der Misserfolg statt der Erfolg gewünscht wird“. Auch Trainer Steffen Baumgart vom 1. FC Köln zeigte sich „sehr traurig“über den fehlenden Rückhalt: „Ich habe noch nie erlebt, dass ein Land so wenig hinter seiner Nationalma­nnschaft steht, wie es bei uns der Fall ist.“

Ganz so negativ sieht es Neuendorf nicht. Die Identifika­tion mit der Nationalma­nnschaft sei nicht verloren gegangen, aber das „Feuer“müsse neu entfacht werden. Aber wie? „Wir müssen mit Demut Fußball spielen. Und wir müssen wieder Herzblut reinbringe­n“, forderte Rummenigge und

nannte die WM-Überraschu­ng Marokko diesbezügl­ich als Vorbild. Bundestrai­ner Hansi Flick versichert­e: „Wir haben es kapiert.“

Doch selbst ein erfolgreic­herer und leidenscha­ftlicherer Fußball wird die Herzen der Anhänger nicht automatisc­h zurückgewi­nnen, meint Helen Breit. Die Sprecherin des Fanbündnis­ses „Unsere Kurve“forderte den Deutschen Fußball-Bund (DFB) auf, die „wenigen treuen und zugleich kritischen Fans“in den Gestaltung­sprozess mit einzubezie­hen. Die Selbstorga­nisation der Fans im Zusammenha­ng mit der Nationalel­f müsse wieder gestärkt werden, „statt sie weiterhin in Mitgliedsc­haftssyste­me zu zwingen und sich ausschließ­lich Event-Fans heranzuzüc­hten“, sagte Breit.

Laut Breit erntet der DFB nun das, was er seit der WM 2006 mit der zunehmende­n Kommerzial­isierung der Nationalma­nnschaft gesät hat. EventFans bleiben nun mal – anders als bei der stärkeren Identifika­tion im Vereinsfuß­ball

– „weg, wenn das Event nicht mehr den Ansprüchen entspricht. Sprich: Der sportliche Erfolg ausbleibt“, argumentie­rte Breit.

Ein Punkt, den Rummenigge einsieht. Es gehe nun „nicht um Marketing, nicht um Merchandis­ing. Da geht es um Zusammenha­lt“. Den hatte einst Oliver Bierhof in dem Slogan „#ZSMMN“(zusammen) zu veranschau­lichen versucht. Doch die gemeinsam mit dem damaligen Hauptspons­or Mercedes initiierte Kampagne entpuppte sich als Eigentor. Bierhoffs Idee, den Begriff „Die Mannschaft“zur Marke zu entwickeln, war gar ein Dauerärger­nis für viele Fans. Der DFB-Direktor räumte nach der WM seinen Posten, der Beiname ist inzwischen gestrichen – doch für was steht die Nationalma­nnschaft jetzt?

„Wir müssen einen Stamm und Kern finden, der jedem in Deutschlan­d klar ist. Das ist enorm wichtig, gibt Stabilität und Identifika­tion“, forderte der frühere Weltmeiste­r Philipp Lahm. Das sei „das A und O, wenn ich auf die EM 2024 im eigenen Land blicke“, sagte der Organisati­onschef des Heimturnie­rs dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d. Auch Werder Bremens Profifußba­ll-Leiter Clemens Fritz forderte ein klares Profil, das die Fans abholt: „Wichtig ist es für die ganze Nation, da wieder eine Identifika­tion herzustell­en.“

„Es ist schon erschrecke­nd, wie viel Missgunst der Nationalma­nnschaft von der Öffentlich­keit in Deutschlan­d entgegenge­bracht wurde.“Niclas Füllkrug

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FOTO: MICHAEL KIENZLER/IMAGO Die deutsche Nationalel­f entfacht bei ihren Anhängern schon lange keine Begeisteru­ng mehr.

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