Ein musikalisches Lagerfeuer: Ein fulminantes Wochenende auf dem Southside-Festival
Das „Lagerfeuer der Republik“nannte man früher gerne Fernsehsendungen, bei denen sich die gesamte Familie vor der heimischen Flimmerkiste versammelte und bei denen möglichst alle Generationen und Geschmäcker bedient wurden: was Knalligeres für die Jüngeren, was von früher für die Älteren und ein paar Sachen, auf die sich alle einigen konnten. Im Festivalgewerbe hat das Southside, das am Wochenende in Neuhausen ob Eck vor 65 000 Besuchern stattfand, in Teilen diese Aufgabe übernommen. Für die eher jüngeren gab es provokativ-ballernden Hiphop von K.I.Z., Albernes von SDP, Rap zwischen „Bling-Bling“und Girlpower von Nura und Juju und unpolitische Partymusik von Charlie XCX. Ältere Semester erlebten sicher nicht zum ersten Mal die Punkrock-Poniere von Bad Religion. Die sind seit gut vier Jahrzehnten im Geschäft und ziehen mit unbeirrbarer Energie über die Bühnen dieser Welt.
NEUHAUSEN OB ECK - Die Killers wecken dagegen eher Erinnerungen an die hedonistischere Seite der 1980er-Jahre - die aus Las Vegas stammende Band setzt bei ihrem Rock mit Electropop-Elementen auf die ganz große Showbühne und hätte sich damals wie heute sicher auch gut bei „Wetten, dass..?" gemacht. Und die Hives aus Schweden bieten einerseits eine ganz auf die wesentlichen Bestandteile reduzierte Rockmixtur und knüppeln ihre Gute-Laune-Nummer gerne in unter drei Minuten raus. Andererseits haben sie ihre Egos auf maximale Größe aufgeblasen und schaffen durch diese ironische Brechung den Anschluss an das Hier und Jetzt: Sänger Howlin' Pelle Almqvist findet immer neue Superlative für das eigene Schaffen, schmückt die Bandgeschichte bis in graue Vorzeiten hin aus und dekliniert sämtliche Formen der Publikumsinteraktion durch - ein großer Spaß.
All diese Bands bedienen natürlich nicht nur eine Ziel- und Altersgruppe; darüber hinaus gibt es auch solche, die besonders erfolgreich im Brückenbauen sind. Etwa die Twenty One Pilots aus Ohio am Sonntagabend, die entgegen ihrem Namen im Kern ein Duo aus Frontmann Tyler Joseph und Schlagzeuger Josh Dun sind, ergänzt um einige sehr gute Musiker. Für ihren Auftritt hatten sie ein Programm zusammengestellt, für das der Titel
„ein Kessel Buntes“noch untertrieben wäre: Zunächst treten die beiden mit Bankräuber-Mützen auf die Bühne und musizieren drauflos, dann schlägt Dun einen Purzelbaum rückwärts, die Masken fallen, weitere Musiker kommen hinzu und plötzlich sitzt Joseph mit einer Elton-John-Brille am Klavier und spielt dort konsequenterweise dessen Titel „Benny and the Jets“. Dazu schreien junge Mädchen in der ersten Reihe vor Begeisterung und halten Schilder mit persönlichen Botschaften hoch, während auch das gesamte übrige Festivalpublikum gebannt wartet, was denn noch so alles auf sie zukommt. Da gibt es etwa eine Trompetensolo-Variation von Nenas „99 Luftballons“- und zuvor tatsächlich ein Lagerfeuer auf der Bühne. Die lodernden Flammen, die aus der Konstruktion emporsteigen, beleuchten die Musiker, die sich mit akustischen Instrumenten um sie versammeln - „unplugged“einmal ganz anders.
Ein sprichwörtlicher Lagefeuer-Moment also, aber auch Seeed am Vorabend schafften es, mit ihrer Mixtur aus Reggae, Dancehall und einigen anderen Stilen, ein sehr buntes Publikum zum Tanzen zu bringen. Die brutal lauten Beats des holländischen DJs Martin Garrix pusteten dagegen im Anschluss wohl einige Freunde handgemachter Musik zurück
Weniger kontrovers war dagegen das Programmfinale in der Nacht von Freitag auf Samstag ausgefallen: Da boten Rise Against einen denkwürdigen Auftritt. Seit gut zwei Jahrzehnten rufen die Punkrocker zur Revolution auf - es sollte aber auch die richtige sein, wie Sänger Tim McIlrath in Neuhausen betonte: „Wenn es Elemente von Rassismus oder Homophobie gibt - dann seid ihr in der falschen Revolution“. Der Aktivist für Tierrechte ist „straight edge“, lehnt also jegliche Rauschmittel ab. Wer vor diesem Hintergrund aber tiefernstes Predigertum erwartet, liegt falsch - auch jenseits der Botschaften kann der melodische Hardcore-Punk der Band aus Chicago überzeugen. Und als McIlrath den 2008erSong „Hero of War“anlässlich des Krieges in der Ukraine anstimmte - und Deutschland für die Aufnahme von Geflüchteten dankt - machte sich eine durchaus bewegte Stimmung auf dem mitternächtlichen Gelände breit.
Generationen und Welten brachte schließlich die IndieRockerin LP zusammen. Die vermutlich 1968 geborene Musikerin Laura A. Pergolizzi singt mit tiefer Stimme Songs, die man sich auch auf Folk- und Hippie-Festivals der 60er- und 70er-Jahre vorstellen könnte. Und zwischendurch durfte eine junge Frau mit Regenbogenflagge auf die Bühne kommen und wie gewünscht die Sängerin umarmen und küssen - „Love and Peace“sind also auch nach der Corona-Pause auf den Festivals nicht aus der Mode gekommen. Da wäre es vielen wohl auch ohne die am frühen Samstagabend brutzelnden Glutofen-Temperaturen ganz wohlig warm geworden - wie vor einem knisternden Lagerfeuer eben.
von Stefan Rother Fotos, Videos und Bilanz gibt es zu sehen unter www.schwäbische.de/southside2022