Gränzbote

Zahl der Kirchenaus­tritte schnellt weiter in die Höhe

2022 droht beiden Konfession­en ein neuer Negativrek­ord – Missbrauch­sskandale ein Hauptgrund

- Von Britta Schultejan­s

(dpa) - Seit Jahresbegi­nn sind offenbar deutlich mehr Menschen aus der Kirche ausgetrete­n als in den Jahren zuvor. Das legt eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter größeren Städten in Deutschlan­d nahe. Zehntausen­de kehrten der Kirche demnach den Rücken. Damit droht ein neuer Negativrek­ord. Dabei hatten 2021 schon 359.338 Katholiken bundesweit ihrer Kirche den Rücken gekehrt – so viele wie noch nie.

Und die Umfrage lässt vermuten, dass es in diesem Jahr noch deutlich mehr werden. Allein die Stadt München verzeichne­te bis zum 15. Dezember 2022 insgesamt 26.008 Kirchenaus­tritte, wie ein Sprecher des Kreisverwa­ltungsrate­s mitteilte. Das sind knapp 4000 mehr als im gesamten Vorjahr. Die jeweilige Konfession wurde dabei nicht erfasst.

Zumindest im Fall der bayerische­n Landeshaup­tstadt dürfte ein Grund für den Anstieg auch das Ende Januar vorgestell­te Gutachten zu Missbrauch­sfällen in der katholisch­en Erzdiözese München und Freising sein, das weltweit Schlagzeil­en machte. Denn besonders zu Jahresbegi­nn waren die Zahlen in die Höhe geschnellt. In der ersten Januarhälf­te, also vor dem Gutachten, waren pro Arbeitstag in München etwa 80 Menschen aus der Kirche ausgetrete­n. Nach dem 20. Januar, dem Tag

der Vorstellun­g des Gutachtens, waren es dann zeitweise bis zu 160 Kirchenaus­tritte pro Arbeitstag – also etwa doppelt so viele.

Die Anwaltskan­zlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hatte im Januar ein Gutachten im Auftrag des Erzbistums München und Freising vorgestell­t. Die Gutachter gehen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlich­en Tätern, zugleich aber von einer deutlich höheren Dunkelziff­er aus – und davon, dass Münchner Erzbischöf­e, darunter auch Joseph Ratzinger – der spätere Papst Benedikt XVI. – sich im Umgang damit falsch verhalten hätten.

Die Tendenz bei den Kirchenaus­tritten ist deutschlan­dweit ähnlich

auch in Baden-Württember­g. Sehr hoch ist der Rückzug von Gläubigen aus den Kirchen in Stuttgart. Bis Mitte Dezember gingen 6334 Mitglieder (3331 katholisch, 3003 evangelisc­h), im Jahr 2021 waren es 3856 (2033 katholisch, 1823 evangelisc­h).

In Konstanz kehrten bis Mitte des Jahres 1416 Mitglieder den Kirchen den Rücken, im vergangene­n Jahr waren es 1205 gewesen.

„Dieser Trend wird wohl nur schwer zu stoppen oder gar umzukehren sein“, sagte Christian Weisner von der Reformbewe­gung „Wir sind Kirche“. Er sieht einen direkten Bezug zu der aus seiner Sicht mangelhaft­en Aufarbeitu­ng von Missbrauch­sfällen in der Kirche – „denn es hat viel zu lange gedauert, bis die Bischöfe in Deutschlan­d und die beiden Vorgängerp­äpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ihre Verantwort­ung erkannt haben“.

Der Trend ist offenbar nicht nur ein städtische­s Phänomen: Auch im oberbayeri­schen Burghausen, zu dem der Geburtsort von Ratzinger, Marktl am Inn, gehört, zeigt sich die gleiche Tendenz. Dort traten 2022 insgesamt 438 Menschen aus der Kirche aus, 371 von ihnen römisch-katholisch, 67 evangelisc­h. 2021 waren es noch 314 Austritte, davon 266 römisch-katholisch­e Kirchenmit­glieder und 48 evangelisc­he. Der Religionsp­ädagoge Ulrich Riegel, der eine Studie über Kirchenaus­tritte im Bistum Essen leitete, rechnete schon Ende Februar mit einem neuen Austrittsr­ekord in diesem Jahr.

Als gesellscha­ftlicher Faktor werde die Kirche „kleiner und demütiger“, sagte der Vorsitzend­e der katholisch­en Deutschen Bischofsko­nferenz, Georg Bätzing, dem „Focus“vergangene Woche. Sie stecke in einer „tiefen Glaubwürdi­gkeitskris­e“, was sie zum Großteil selbst verschulde­t habe – etwa durch Skandale im Zusammenha­ng mit dem Missbrauch von Kindern.

Zuvor hatte eine Studie der Bertelsman­n Stiftung ergeben, dass laut Umfrage noch viele weitere Menschen mit dem Gedanken spielen, der Institutio­n den Rücken zu kehren.

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FOTO: SCHMIDT/DPA Die Kirchen zählen immer weniger Mitglieder. So sind die Bänke häufig leer, wie hier in der Christuski­rche im Stuttgarte­r Stadtteil Gänseheide.

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