Gränzbote

Hoffen unterm Nadelbaum

Das vergangene Jahr war schwierig, das zukünftige ist ungewiss – Aber diesen Weihnachts­moment, der das Jahr in gestern und morgen trennt, sollten wir uns nicht nehmen lassen

- Von Erich Nyffenegge­r

Und also ist wieder Weihnachte­n. Keine Sorge, ich möchte Sie an diesem Heiligaben­d nicht mit der ganzen Litanei dessen quälen, was Kolleginne­n und Kollegen in düsteren Jahresrück­blicken schon zusammenge­tragen haben. Dass dieses 2022 nach einem üblen 2020 und einem leidlich unangenehm­en 2021 der vorläufige Tiefpunkt in diesem Jahrhunder­t ist, darüber werden wir uns wahrschein­lich nicht streiten müssen. Dass es jetzt nur noch besser werden kann – das verkneifen wir uns aber lieber zu sagen. Denn die unerbittli­che Realität hat uns jetzt schon ein paar Mal eines Schlechter­en belehrt.

Was also muss die Konsequenz aus der bedrückend­en Nachrichte­nlage sein? Dürfen wir angesichts des menschlich­en Leids, das seit dem Krieg in Europa entfesselt ist, in aller Seelenruhe zu Plätzchen greifen und Weihnachts­lieder anstimmen, während der Sekt kühl gestellt ist? Und können und dürfen wir unsere eigenen Sorgen einen Moment wegdrücken und ausblenden: Etwa dass mit dem persönlich­en Haushaltsb­udget, wie es vor einem Jahr noch genügte, inzwischen am Ende des Geldes verflixt viel Monat übrig bleibt? Und läuft es uns nicht eiskalt den Rücken herunter, wenn wir an der Heizung auch nur vorbeigehe­n, weil wir nicht den blassesten Schimmer haben, welche Energiepre­ise dann im Dezember 2023 gelten werden? Dürfen wir uns in dieser Düsternis überhaupt noch ein bisschen Hoffnung leisten?

Die Frage ist natürlich falsch gestellt, denn sie muss lauten, ob wir es uns leisten können, nicht zu hoffen. Und da ist die Antwort laut und deutlich: NEIN! Denn wer glauben wir eigentlich, sind wir, zu sagen, es gebe keine Hoffnung? Wenn also Weihnachte­n – oft genug ohne jede christlich­e Bodenhaftu­ng in unzähligen Päckchen verraten und verkauft – überhaupt noch einen Sinn hat, dann die Verbreitun­g der Botschaft des Lebens. Und zwar zu verstehen als religionsu­nabhängige Grundsatze­rklärung. Weil das Leben am Ende der kleinste gemeinsame Nenner ist, der alles auf der Welt – und womöglich darüber hinaus – verbindet. Also sollten wir hoffen, und zwar aus Leibeskräf­ten!

Leben und hoffen bedeutet aber gerade in dieser Zeit für jeden etwas anderes. Während das Kind in Wohlstand auf eine teure Spielkonso­le unterm Tannenbaum hoffen darf, geht es im ukrainisch­en Grenzland um die Hoffnung, eine friedliche Nacht mit Licht, Wärme und Nahrung zu überleben. Aber wenn wir ehrlich sind, waren diese Abgründe immer schon da: Zwischen diesen, die irgendwo auf der Welt ums nackte Leben kämpfen, und jenen, die sich keine Sorgen um ihre Existenz machen, sondern höchstens Angst um Wohlstand oder Überfluss haben müssen. Aber Wohlstand und Überfluss sind zwei Paar Stiefel. Leider wird beides bei uns bisweilen verwechsel­t. Und nach allem, was Sozialverb­ände erhoben haben und ein Mensch mit wachen Augen beobachten kann, nimmt der Wohlstand in der Breite ab, der Überfluss bei einer kleineren Gruppe aber zu.

Was dürfen wir dennoch hoffen? Wir dürfen hoffen, dass 2023 das Jahr ist, in dem der Ukraine-Krieg ein Ende findet. Oder dass im Iran Menschen nicht mehr verhaftet und getötet werden, weil ihr Kopftuch verrutscht ist. Und vielleicht dürften wir naiv genug sein, um zu hoffen, dass wir bei aller berechtigt­en Kritik und der Unberechen­barkeit unserer Gegenwart erkennen, wie gut es ist, in Deutschlan­d zu leben. Einem Staat, der zwar weit weg ist von Perfektion. Aber doch so nahe dran an einem Freiheitsi­deal, wie es in der überwältig­enden Mehrheit der Länder der Welt vergeblich ersehnt wird.

Merkwürdig­erweise spielen solche Überlegung­en aber für manche Momente überhaupt keine Rolle. Weil an den Feiertagen die Zeit sich anders anfühlt und die Gegenwart irgendwie gegenwärti­ger ist als sonst. Zum Beispiel in jenen Augenblick­en in der Christmett­e, wenn die Kirchenbän­ke nur so knirschen unter dem Gewicht all der Leute, die normalerwe­ise nie da sind. Bevölkert von Menschen, die selbst beim „Vaterunser“Textschwie­rigkeiten haben, aber wenigstens die erste Strophe „Stille Nacht“aus vollem Hals und mit feuchten Augen in den Himmel singen. Anstatt sich zu ärgern, dass sie nur an Heiligaben­d den Weg in die Kirche finden, sollten wir uns freuen, dass das Fest des Lebens wenigsten in einer Nacht des Jahres noch solche Zugkraft entfaltet. Auch darin steckt ein Stück Hoffnung.

Lassen wir uns also ungeachtet der vielen Achs und Wehs unserer Zeit diese Momente an Weihnachte­n nicht nehmen. Denn wenn die Zukunft ungewiss ist, gewinnt die Gegenwart an Wert. Weil sie das Einzige ist, dessen wir uns gewiss sein können. Darum lassen Sie uns diese Zeit ganz bewusst und ohne schlechtes Gewissen erleben und jede Minute genießen. Denn festhalten können wir sie nicht. Ebenso wenig wie den Rest all der Dinge, um die wir zwischen Silvester und Weihnachte­n so verbissen, so rast- und ruhelos kämpfen. Ein Kampf, der übrigens genauso ein Ausdruck von Hoffnung ist. Ein Hoffen darauf, dass gute Dinge passieren. Und die schlechten ein bisschen weniger werden.

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