„Solange mein Geist klar ist, werde ich die Grenzen suchen“
Extremkletterer Thomas Huber braucht die Tradition in seinem Leben und kritisiert den fehlenden Mut vieler Menschen
RAVENSBURG - Als Teil der legendären „Huberbuam“wurde Thomas Huber weit über die Bergsteigerszene hinaus bekannt. Mehrere Dokumentationen erschienen über die atemberaubenden Erstbesteigungen und spektakulären Klettertouren des Extremsportlers. Unfälle und Niederlagen gehörten neben großem Ruhm und weltweiter Anerkennung ebenso zu diesem Leben wie schwere Verletzungen. Mit der „Schwäbischen Zeitung“sprach der 56-Jährige zum Erscheinen seiner Autobiografie („In den Bergen ist Freiheit“/Malik Verlag) über ein Leben am Abgrund.
Herr Huber, das Weihnachtsfest steht vor der Tür, wie verbringen Sie und Ihre Familie die Feiertage? Gibt’s spezielle Rituale? Werden die Kugeln mit Karabinerhaken in den Baum gehängt?
Nein, Karabiner hängen wirklich nicht am Weihnachtsbaum. Ich bin zur Weihnachtszeit sehr traditionell unterwegs. Wir hängen zum Beispiel nach wie vor für unsere Kinder, auch wenn sie mittlerweile erwachsen sind, das Zimmer mit Leinentüchern ab, sodass wir ein kleines Geheimnis draus machen, was sich dorthinter verbirgt. Zudem bin ich mit den Berchtesgadener Traditionen sehr verbunden und bin daher auch bei den Weihnachtsschützen. Für mich ist das irgendwie ein Zurückfinden in die Ordnung.
Eine Ordnung, die ihre große Leidenschaft nicht selten durchbricht. Geht es an einem Weihnachtsfeiertag auch raus in die Berge oder ist nur Völlerei angesagt?
In dieser Zeit lasse ich das Bergsteigen hintenanstehen, auch wenn ich nach wie vor in meinen Trainingsraum gehe. Es gab allerdings auch Jahre, in denen ich vor dem Fest in der Eiger-Nordwand unterwegs war, dann kurz vor Weihnachten nach Hause kam und kurz vor Neujahr noch mal eingestiegen bin. Wenn ich ein Projekt hätte und zu diesem Zeitpunkt wären Topverhältnisse, dann könnte es auch noch heute vorkommen, dass ich kurz dorthin fahre.
Die beeindruckende Sicht vom Gipfel, die Schönheit der Natur, das Bezwingen eben jener durch den Menschen, was macht für Sie den größten Reiz aus?
Für uns ist es immer die Schönheit der Natur und sie in dieser Herausforderung zu entdecken, die sie uns stellt. Ich würde es auch nicht als Bezwingen bezeichnen, denn das klingt wie eine Lösung mit der Brechstange. Man muss die Natur verstehen – mit ihrer ganzen Schönheit, mit ihren Gefahren, auch mit ihrer Grausamkeit. Und wenn man diese verstanden hat, kann man vielleicht sogar ein unmögliches Projekt möglich machen.
Als Freikletterer, also nur mit Füßen und Händen, ohne künstliche Hilfsmittel haben Sie mitunter die extremste Form des Sports gewählt, ist das die größte Auslegung der Freiheit?
Für den Laien suggeriert das Klettern ohne Seil die größte Gefahr, doch das stimmt nicht. Die größte Gefahr ist schon überhaupt in die Berge zu gehen. Denn wenn man dorthin geht, kann der kleinste Fehler tödlich sein. Alexander und ich haben ja alle Spielformen des Kletterns und des Bergsteigens erleben dürfen. Vom Klettern ohne und mit Seil, Frei- oder Speedklettern bis zum Extremalpinismus. Diese Auseinandersetzung mit der Natur sehen wir aber nicht als Extremsport, sondern mehr als Kunst. Wir kennen es nicht anders. Wir versuchen hier nicht wilde Hunde zu sein, sondern das ist unser Leben. Ohne Bergsteigen würde es nicht funktionieren, wir brauchen dieses Aufbrechen, dieses Neugierigsein. Damit wir uns nicht falsch verstehen, wir wissen natürlich auch, dass es dort gefährlicher ist als in der normalen Welt.
Ihre Laufbahn führte Sie um den Planeten, welcher Anblick hat Sie am meisten beeindruckt? Was war sportlich ihr größter Moment?
Sportlich der größte Moment war unsere erste Erstbegehung, der Rauhnachtstanz 1984. Das war ja auch in der Jugend zusammen mit
meinem Bruder der Startschuss für alles. Da haben wir gesagt: Das ist unser Weg, den wollen wir gehen. Zudem hat dieser Moment uns auch unsere spezielle Note gegeben: Die Huberbuam – die sind auf den Wegen, pushen das Limit immer nach vorne, aber überschreiten es nie. Das war der Weg ins Extrembergsteigen und das war in der Heimat. Das hat mir die Welt geöffnet und war die Tür nach Patagonien, ins Karakorum, in die Arktis, in die Antarktis, nach Amerika ins Yosemite Valley. Alle sind meine Berge und da kann ich keinen herausheben. Das größte sportliche Highlight ist das Leben. Der Fakt, dass man überlebt hat.
Dass Sie noch leben, ist nicht selbstverständlich. Schwere Verletzungen und Todesfälle von Freunden blieben nicht aus. Gab es nie die Überlegung, alles einfach hinzuschmeißen? Gewann die Angst die Oberhand?
Angst sensibilisiert und man muss achtsam sein und den eigenen Sinnen Raum geben. Die Angst kommt und dann muss ich mich entscheiden. Aber ich möchte ihr nicht den großen Raum geben, denn die Angst lähmt – aktuell auch unsere Gesellschaft. Wir sind nicht mehr vorwärtsgekommen, weil uns die Angst ein Stück Freiheit genommen hat. Ich finde, dass wir wieder eine mutige Gesellschaft werden müssen. Wir brauchen eine mutige Jugend und das ist ein Plädoyer für die Freiheit.
Nur zu sagen, wir müssen den Gürtel enger schnallen und in eine angstüberladene Zukunft gehen, ist falsch.
Wo spüren Sie das zum Beispiel?
Wenn die Politiker etwa die Angst an uns weitergeben und sagen, dass wir jetzt einen harten Winter vor uns haben und wir lernen müssten, kalt zu duschen. Da bleibe ich entspannt und sage: Wenn es so weit ist, dann duschen wir halt kalt. Es ist eine typische Mentalität, ständig vorbereitet werden zu müssen. Wenn ich höre, dass wir uns langsam Vorräte für den schlimmsten Fall anlegen sollen, dann frage ich mich schon, wo wir sind. Wir leben in einer Welt, in der
es uns nie so schlecht gehen wird, dass wir nichts mehr zu essen haben werden. Es geht uns anderweitig schlecht: dass wir etwa andere Menschen ausgrenzen oder noch kein Tempolimit haben. Wir haben so viele Baustellen, die wir angehen müssten.
Sie schreiben von sich als Person mit einem paradoxen Lebensmodell, hier der Familienvater mit konservativen Lebensgewohnheiten, dort der Extremsportler. Denken Sie, dass jeder Mensch eigentlich dieses facettenreiche Leben benötigt und viele „konservative Lebensmodelle“oftmals nur der
Furcht vor dem Unbekannten geschuldet sind?
Ich brauche diese konservative Lebensweise. Zu Hause sein, ein Bier trinken, einfach nur sein, ist wunderbar, aber du brauchst auch die Rebellion als Gegensatz. Seinem Herz folgen ist heutzutage aber nicht sehr verbreitet, wir sind mit einer Handbremse unterwegs und dadurch funktioniert vieles nicht. Weil wir immer müssen, können wir nicht. Ich habe mich davon befreit und das ist auch die Geschichte unserer Bergsteigergemeinschaft, der Stone Monkey beweist, dass wir es können, weil wir es tun. Man sollte immer dran denken: Man darf spinnen, man darf ein bisschen verrückt sein, weil man nur so seinen eigenen Weg finden kann.
Sie schrieben, Sie sind geboren fürs Abenteuer, geboren, um zu klettern und das gemeinsam als Brüder. Sagt Ihre Mutter immer noch, dass sie auf den Kleinen aufpassen sollen, wenn sie unterwegs sind? Wie kann man eigentlich den Trieb ausstellen, seinen kleinen Bruder zu beschützen?
Die Mutter tut das immer noch permanent. Wenn wir wegfahren, macht sie sich Sorgen. Doch manchmal etwas mehr Sorgen um mich, weil ich der Wildere bin und Alexander der Bedachtere. Als wir in jungen Jahren unterwegs waren, war die Bitte der Eltern immer, dass ich die Verantwortung trage. Das verwischt sich dann irgendwann und daher war dieser Trieb nicht da. Heute ist es trotz der zwei Jahre Altersunterschied nicht so, dass es mein kleiner Bruder ist. Er ist nur mein Bruder. Aber egal mit wem ich unterwegs bin, ich gebe immer das Versprechen ab, dass wir aufeinander achten. Mit Alexander war es immer ein Wettbewerb, vor allem am Anfang, weil er da der klar Bessere war und mich Krankheiten zurückgeworfen haben. Das hat mich allerdings zum Kämpfer gemacht.
Sie sprechen schon die Verletzungen an: Bandscheibenvorfall, ungesicherter Sturz aus 16 Metern mit Schädelfraktur, ausgerenkter Ellenbogen usw. Warum war der Reiz dennoch größer, immer weiterzumachen?
Weil ich zu sehr Bergsteiger bin. Solange ich bergsteigen kann, werde ich bergsteigen. Wenn es mir körperlich nicht mehr möglich gewesen wäre, hätte ich etwas anderes gemacht. In mir ist das Entdeckergen, das neugierige Kind lebt weiter und nach den Verletzungen war immer der erste Gedanke, dass das der Tiefpunkt ist und ab jetzt dann nur noch nach oben gehen kann.
Wie fühlt es sich an, dort oben zu stehen, wo noch niemand war und Routen zu klettern, die noch niemandem gelungen sind?
Das realisiert man in diesen Momenten nicht. Jeder Gipfel, aber vor allem jede Erstbesteigung ist unfassbar. Aber erst, wenn man wieder unten ist und zurückschaut, kann man es halbwegs erahnen. Man hat eine Geschichte auf der Landkarte unseres Planeten hinterlassen, die nun den eignen Namen trägt.
Musiker in einer Band, Familienvater, Unternehmer, Extremkletterer, bleibt da noch Zeit für andere Interessen? Haben Sie etwa das WM-Finale geschaut?
Ich habe nur das Elfmeterschießen gesehen und mein Herz brannte für Argentinien, weil ich so viele Freunde dort unten habe. Als dann Argentinien gewonnen hat, gingen dann direkt die Nachrichten raus, das war Wahnsinn.
Wenn ich Sie frage: Messi oder Messner, dann ist die Antwort dennoch eindeutig, oder?
Messner hat auf seinem Höhepunkt aufgehört, Messi wird das jetzt wohl nicht machen und das unterscheidet die beiden – und wohl auch mich von Messner. Ich bin 56 und habe keine Lust, mit dem Bergsteigen aufzuhören. Die Sehnsucht nach Patagonien lässt mich nicht mehr los und ich bin mir zum Beispiel sehr sicher, dass ich noch einmal unter meiner Linie am Chocktoi stehen werde, am Latok I. Solange mich meine Fuße tragen, solange mein Geist so klar ist, werde ich gehen und die Grenzen suchen.