Wanderfreuden hoch über dem Meer
Der Weitwanderweg GTE führt über Elbas höchste Gipfel
(dpa) - Heike Schnerring pflegt ein ausgefallenes Wanderritual. In ihrem Rucksack, sagt sie, stecke immer eine Gartenschere. Auf Elba? Bei Spaziergängen über sanfte Inselhügel? „Du wirst bald sehen, warum“, sagt sie und lächelt boshaft. Schnerring kennt Elba besser als die meisten Alteingesessenen. Seit 30 Jahren lebt die Heilbronnerin hier, im Frühling und Herbst führt sie jeden Tag Wanderer über die Insel. Vor dieser Tour aber hat sie Respekt: Drei Tage lang wird es quer über das gesamte Eiland gehen, über die höchsten Bergrücken und Gipfel. „Ich weiß nicht, ob ich die Grande Traversata Elbana jemals am Stück gegangen bin.“
Die große Überschreitung Elbas, abgekürzt GTE, ist noch einer dieser oft beschworenen Geheimtipps. Dabei gibt es sie schon seit 40 Jahren. 2017 änderte der Nationalpark Toskanischer Archipel den Verlauf leicht, unter anderem weil manche Forststraße mittlerweile autofrei ist. Offizielle Schilder geben nun die Länge der Südroute von Cavo nach Pomonte mit knapp 51 Kilometern an, die Nordroute nach Patresi ist knapp 59 Kilometer lang. Auf beiden Varianten sind mehr als 2000 Höhenmeter auf- und abzusteigen.
Doch der Start ist gemächlich. Im Badeort Cavo schlendert man den Strand entlang, dann geht es zwischen verschlafenen Villen hinauf. In den Vorgärten wachsen Kakteen und Yucca-Palmen, aus Steinmauern wuchern wilde Kapernbüsche. In Cavo laufe das Leben gemächlicher als in den Touristenzentren der Insel, sagt Schnerring. Sie kommt selten mit Gästen hierher. Deshalb verläuft sie sich erst mal im Wald der Halbinsel, auf den verschlungenen Wegen zwischen Steineichen und fedriger Baumheide, Lorbeerbäumen und duftenden Mastix-Sträuchern. „Sieht ja alles gleich aus hier“, sagt sie. Gleich hübsch, möchte man hinzufügen.
Inmitten des mediterranen Waldes haben sich die örtlichen Bergbau-Barone ihr Denkmal gesetzt. Den Turm bemerken viele Urlauber schon auf der Fährfahrt, den wilden Stilmix erkennt man erst jetzt: Aus der rötlichen Mauer ragt ein steinerner Schiffsbug, Eulen spreizen ihre Flügel, an den Ecken gucken vier Wächter grimmig. Anfang des 20. Jahrhunderts ließen sich die Toniettis, schwer reich durch ihre Lizenz zum Erzabbau, dieses Mausoleum bauen. Nun verfällt der Prestigebau.
Elba war lange das Ruhrgebiet des Mittelmeers, schon vor mehr als 2000 Jahren hackten die Etrusker Eisenerz aus der Erde. Die Spuren eines Tagebaus sieht man ein paar Stunden später unterhalb des Wegs. Das Bombardement der Eisenhütten im Zweiten Weltkrieg sei in gewisser Weise ein Segen für Elba gewesen, sagt Schnerring. Sonst würde Portoferraio vielleicht noch aussehen wie
Piombino, dessen Industrie-Ungetüme man jenseits der Meerenge sieht. Statt Eisen zu schmelzen, pflanzten die arbeitslosen Kumpel nach dem Krieg Pinien. Und schrubbten den Grauschleier von den Festungen, die Cosimo von Medici zur Abwehr der Piratenflotten rings um Portoferraio baute.
Vom GTE sieht man die Burgen nur aus der Ferne. Der Weg führt durch Macchia, den typischen Mittelmeer-Buschwald aus Wacholder und Rosmarin, Myrten und Zistrosen. Bald weicht die Macchia dichtem Wald. Die Trockenmauern, die einst Weinberge terrassierten, zerbröseln im Unterholz. Mit dem Einzug des Tourismus gaben viele Weinbauern die Schinderei auf.
Wirklich spektakulär wird die Aussicht erstmals auf dem Kammweg hinauf zum Monte Strega, dem Hexenberg. „Er macht seinem Namen alle Ehre“, sagt Schnerring. Wenn möglich, umgehe sie mit ihren Kunden den steilen Aufstieg, oben pfeife oft der Wind. An diesem Tag ist der luftige Pfad aber ein Traum. Über grüne Hügel blickt man rechts auf die türkisen Buchten und die Ferienhaussiedlungen von Nisporto und Nisportino, links auf den Bergwerksort Rio nell’Elba und die Einsiedelei Santa Caterina.
Im stetigen Auf und Ab wandert man über Monte Campanello und Cima del Monte, beide gekrönt von wenig malerischen Funkmasten. Aber der Blick fliegt ohnehin über die grüne Insel, die sich ringsum ausbreitet. Als wären die Bucht von Portoferraio und die Granitberge dahinter nicht schön genug, sitzt vor ihnen noch die Ruine der Burg Volterraio auf einem Felskopf.
Andere Wanderer sind selten. Nur eine Gruppe mittelalter Italiener schlendert schnatternd dahin. Und auf dem Gipfel des Cima del Monte pausieren zwei Studenten aus Karlsruhe. Auch sie wollen die GTE in drei Tagen wandern, dabei aber zelten. „Ich war bisher nur in den Alpen und dachte, Elba könne sowieso nicht mithalten“, sagt die 20-jährige Mara Neininger. „Aber die Tour ist extrem beeindruckend. Und es geht ganz schön rauf und runter.“
Zusätzliche Höhenmeter birgt der tägliche Abstieg in eines der Dörfer. Denn an der GTE gibt es keine Berghütten oder Almen. Die einzige Option am Wegesrand ist der Ziegenhof Terra e Cuore. 80 Ziegen hält Eugenio Survillo auf einer der früheren Müllkippen hoch über Porto Azzurro. Aus ihrer Milch machen der 34Jährige und seine Frau Eiscreme und Käse. „Diese Stille, diese Aussicht, das ist Luxus für mich“, sagt Survillo, der zuvor in Rom lebte. Wer in dem rustikalen Safarizelt übernachtet, versteht ihn. Von der Anhöhe sieht man die Sonne im Meer versinken, später die Lichter der Fähren auf dem schwarzen Meer. Portoferraio funkelt in der Nacht.
Nicht jeder Teil des Wegs ist so hübsch. Von Terra e Cuore geht man
am nächsten Morgen über eine Asphaltpiste, durch Pinienplantagen und über eine alte Militärstraße. Ab und an röhrt ein Motorrad vorbei. Für Mitteleuropäer aber ist allein die Natur am Wegesrand exotisch und reizvoll genug. Man passiert Olivenhaine und Korkeichen, und zwischendurch lassen sich die körnigen roten Früchte der Erbeerbäume pflücken. Sie schmecken ähnlich wie Guave, schon die alten Römer schätzten ihre leicht berauschende Wirkung. „Man muss sie vorsichtig dosieren“, warnt Schnerring. „Sie regen die Verdauung an.“
Selbst unberauscht verlief man sich früher leicht auf der zweiten Etappe der GTE, im Gewirr der verzweigten Waldwege. Am Monte Orello endete der Pfad einmal an der Klippe eines Steinbruchs. Die neue Route umgeht den Berg. Und ins Valle del Literno folgt man nun einer ausgewaschenen Felsrinne – statt im weiten Halbkreis Serpentinen zu gehen. Der Direktweg ist zwar steiler, aber wesentlich spannender.
Dummerweise wurden an der Kreuzung die beiden Schilder vertauscht. Immer wieder moniert Schnerring in den drei Tagen, dass die angegebenen Gehzeiten nicht stimmen. In den kommenden Jahren sollen die Wegweiser deshalb ersetzt werden. Meist aber findet man sich auf der GTE heute leicht zurecht – dank Michele Cervellino. Der 44Jährige arbeitete früher als Polizist in Genua, nun ist er Mountainbike-Guide und Vizepräsident der elbanischen Sektion des italienischen Alpenvereins CAI. Zusammen mit zehn Freunden malte er in den vergangenen Jahren entlang der gesamten GTE neue Markierungen auf Felsen und Baumstämme.
Die Arbeiter des Nationalparks halten die früher oft überwucherten Pfade instand. Unterhalb des Monte Perone aber haben sie die Macchia länger nicht mehr gestutzt. Brombeerbüsche verhaken sich in Ärmeln und Hosenbeinen. Nun kommt die Gartenschere zum Einsatz – Schnerring knipst den Weg frei.
Der Aufstieg über den mit Piniennadeln gepolsterten Pfad ist steil, schon morgens strömt der Schweiß. Erst im Santuario delle Farfalle gleich hinter der höchsten Passstraße streicht eine kühlende Brise durch die Kiefern und Farne. Besonders im Frühling flattern hier viele Schmetterlinge umher, die auf Schautafeln erklärt werden. Hinter dem lichten Wäldchen beginnt das lange, glorreiche Finale der GTE. Ein sandiger Pfad schlängelt sich durch rund gewaschene, gespaltene Felsbrocken. Über Baumheide blickt man auf die Felsgipfel von Monte Capanne und Le Calanche. Eidechsen huschen über den Granit, Bienen summen. Über wacklige Steinplatten und über Serpentinen im schattigen Wald geht es ein letztes Mal hinauf zur Gabelung, wo sich die beiden Routen trennen. Spätestens hier entscheiden sich viele für den südlichen Arm nach Pomonte.
Knapp dreieinhalb Stunden gibt der Wegweiser für sie an, auf der Nordroute nach Patresi wäre man weitere acht Stunden unterwegs. Lang genug ist auch die Kurzvariante. Vom Sattel unterhalb des Monte Capanne, wo Familien den mit Stahlseilen gesicherten Steig herabkraxeln, wandert man einen Kammweg mit zauberhaftem Panorama hinab. Der Blick fliegt über die waldgrüne Rinne des Tals von Pomonte und über das glitzernde Meer hinaus zur Insel Pianosa.
Gerne würde man jetzt hier auf dem Bergrücken bleiben. Man würde die Isomatte ausrollen in einem der Caprili, jenen Iglus aus Steinen, die sich Schäfer einst als Refugium für Unwetter bauten. Vielleicht kämen ein paar Mufflons vorbei, die Wildschafe, nach denen es hier oben so streng riecht. Und irgendwann würde man in Stille die Sonne hinter den Bergen Korsikas versinken sehen. Die Realität ist auch nicht übel. Nach endlosen Serpentinen belohnt ein Hefeweizen in einer Straßenbar von Pomonte. Und ein abendliches Bad im Tyrrhenischen Meer. Wie im Urlaub.
Die Grande Traversata Elbana ist gut in drei oder vier Tagen zu gehen. Wer zusätzlich zur Südroute auch die Nordroute der dritten Etappe gehen möchte, nimmt am besten die Seilbahn von Marciana auf den Monte Capanne und steigt von dort auf die GTE ab.
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