„Schenken ist etwas Positives“
Der Weihnachtsexperte Gregor von Kursell über seine Leidenschaft für das heilige Fest, kuriose Bräuche und warum die Frage nach dem Baumschmuck beim ersten Date wichtig ist
Gregor von Kursell ist ein Weihnachtsexperte. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem heiligen Fest, seinen Bräuchen und Traditionen. Dabei stößt er immer wieder auf überraschende Neuigkeiten. Wie zum Beispiel einen Brauch aus Peru, der zum Jahresende Streitereien dank einer kontrollierten Rauferei lösen soll.
Herr von Kursell, Sie beschäftigen sich das ganze Jahr über mit Weihnachten. Haben Sie nichts anderes zu tun?
Also es ist nicht so, dass ich sonst nichts anderes mehr mache. Ich beschäftige mich lediglich in meiner Freizeit mit der Recherche zu Weihnachten. Es ist ein Hobby. Es gehört zu meinem Leben dazu. Es ist auch eine Art, sich das ganze Jahr mit Weihnachten zu beschäftigen, ohne als verrückt zu gelten.
Wie kam es denn dazu?
Als Kind war Weihnachten für mich das Fest des Jahres. Als junger Erwachsener war es für mich fast schon langweilig, hatte eher was mit Zwang zu tun. Erst als meine Tochter so alt war, dass sie verstanden hat, worum es ging, wurde es für mich wieder interessant. Das ist sozusagen der zweite Frühling beziehungsweise Winter für Weihnachtsfans. Der Dritte kommt dann wohl, wenn man Enkel hat.
Und wie wurden Sie dann zum Weihnachtsexperten?
Ich habe für meine Tochter ein Buch mit Weihnachtsliedern zusammengestellt. Ich wollte die dazugehörigen Komponisten und Dichter dazuschreiben. Ich war überrascht, wie interessant die Geschichten hinter den Liedern sind. Da hat meine Recherche begonnen und mich das Weihnachtsfieber wieder gepackt.
Warum sind Sie dabeigeblieben?
Ich hatte als Kind das Buch „Das alles ist Weihnachten“von Tilde Michels. Darin stand viel über die angeblich heidnischen Wurzeln von Weihnachten. Durch die Recherche kam ich eben wieder auf das Thema zurück und erkannte, dass das gar nicht so ist, wie ich früher dachte. Vieles davon gilt heute als überholt. Ich habe mich dann immer mehr ins Thema hineingegraben.
Sie sprechen die sogenannte Heidenthese an, die besagt, dass Weihnachten angeblich gar kein christliches Fest ist?
Zur Entstehung von Weihnachten gibt es drei Aussagen: Weihnachten ist genau 2022 Jahre alt. Weihnachten ist uralt, weil es heidnisch ist, wahrscheinlich schon aus der Bronzezeit. Weihnachten ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. Alle drei Aussagen haben etwas für sich, aber sie liegen auch daneben. Klar, im Internet findet man viele Treffer dazu. Da wird auch sehr apodiktisch behauptet, es sei ein heidnisches Fest. Das kann man so sicherlich nicht sagen. Ich gehe aber davon aus, dass auch nichtchristliche Bräuche eingeflossen sind.
Welche Weihnachtsbräuche haben denn eine lange Tradition und welche nicht?
Das ist eine Frage, die man eigentlich nur schwer beantworten kann. Was ist denn ein echter oder ein falscher Brauch? Ab wann ist eine Tradition eine alte Tradition? Es gibt sicherlich einige Dinge, von denen man weiß, dass sie nicht stimmen.
Welche denn?
Es gibt eine Legende, dass die Rauschgoldengel in Nürnberg im Dreißigjährigen Krieg von einem Puppenmacher, dessen Tochter gestorben war, erfunden worden sein sollen und er die Engel mit ihrem Antlitz erschaffen haben soll. Das stimmt nicht. Die Geschichte wurde in den 1930er-Jahren für ein Radiohörspiel erfunden. Die ältesten Erwähnungen von Christbäumen, die zu Weihnachten aufgestellt werden, sind eher zufälliger Natur. Das sind Rechnungen oder aber GenehmiZweige gungen beziehungsweise Verbote, Christbäume zu fällen. Aber das sind eben häufig zufällige Funde. Für die meisten Bräuche hat man nur eine sehr ungefähre Ahnung, woher sie stammen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Der Mistelzweig. Viele sagen, er komme von den Druiden. Meine persönliche These ist aber, dass man Misteln in der Weihnachtszeit sieht, weil die Bäume im Winter kahl sind. Es muss aus meiner Sicht nicht immer etwas Heidnisches oder ein Kult dahinterstecken. Es kann ja auch einfach nur der Wunsch sein, seine Wohnung mit Grünzeug zu dekorieren. Früher waren eben immergrüne Pflanzen ein Schmuck, der verfügbar war. Es gab noch keine Dekoindustrie.
abzuschneiden war damals eine Möglichkeit, was Schönes im Haus zu haben. Ob damit nun irgendein Gott besänftigt werden musste oder eine kultische Handlung dahintersteckte, sei dahingestellt.
Von welchem Brauch weiß man denn, woher er kommt?
Der Adventskalender ist sehr gut belegt. Das ist vergleichsweise ein sehr neuer Brauch. Der Adventskalender wurde ursprünglich von den Müttern selbst gemacht. Manche malten 24 Kreidestriche an die Tür und jeden Tag wurde einer weggewischt. Da gibt es aus dem 19. Jahrhundert im protestantischen Milieu, gerade auch in Schwaben, Belege dafür. Aber nicht nur. Thomas Mann hat das auch bei den Buddenbrooks beschrieben. Dann kam ein Verleger namens Lang, der Sohn einer schwäbischen Pastorenfamilie. Seine Mutter hatte ihm während seiner Kindheit einen Kalender mit Gebäck gebastelt. Er hat dann in München Kalender gedruckt.
Inwiefern prägt die Zeit in der wir leben, die Entstehung von Bräuchen?
Sehen wir uns als Beispiel die Orakelbräuche an. Da wurde versucht, die Ernte vorauszusagen oder auch zu beeinflussen. Frauen haben häufig orakelt, wer ihr Ehemann sein wird. Das mag zum Teil auch spielerisch gewesen sein. Man muss bedenken, die Leute wollten sich damals unterhalten. Es gab kein Fernsehen, kein Kino, kein InterNatürlich net, wenig Bücher, nicht alle konnten lesen. Dann hat man halt auch viele Dinge gemacht, die einfach lustig waren. Geschichten von unheimlichen Begebenheiten in der dunklen Winterzeit erzählt. Das muss nicht alles auf uralte heidnische Glaubensvorstellungen zurückgehen, das ist einfach die Freude am Gruseln.
Was hat Sie bei Ihrer Recherche am meisten überrascht oder fasziniert?
Die Vielfalt. Man könnte gar kein Institut für Weihnachtsforschung gründen, denn man bräuchte sehr viele Disziplinen: Historiker, Kirchengeschichtler, Theologen, Technik-Historiker, Kultur-Historiker, Kulinarik-Historiker. Das allein ist schon faszinierend, wie vielfältig das ist und wie vielfältig die Bräuche sind. Darum sage ich auch, es gibt keinen richtigen Brauch, weil das schon im Nachbardorf anders sein kann. Und ich stoße immer wieder auf neue Dinge, die auch ich noch nicht kannte.
Lassen Sie uns teilhaben.
Dieses Jahr bin ich in Österreich auf sogenannte Krampuskarten gestoßen. Die Figur des Krampus kommt vor allem im Alpenland vor und ist ein Begleiter des heiligen Nikolaus. Im Wiener Raum hat man schon im späten 19. Jahrhundert solche Karten verschickt. Teilweise waren das auch etwas schlüpfrige Motive. Die wurden anonym meist an Frauen verschickt, so dass die Empfängerin rätseln sollte, von wem diese Karte kam. Mir hat eine Österreicherin erzählt, sie haben früher diese Karten von Freunden schreiben lassen und in andere Regionen mitgegeben, um den Absender zu verschleiern. Das war eben ein Spaß, den man sich erlaubt hat. Gerade bei den anzüglichen Karten war das für den Empfänger etwas peinlich, weil der Postbote das ja sah. Inzwischen scheint der Brauch ausgestorben zu sein.
Noch was?
In Peru gibt es die Weihnachtstradition „Takanakuy“. Das heißt übersetzt „Sich gegenseitig hauen“. Genau das tun sie auch. Das ist keine unkontrollierte Prügelei, sondern das wird von einem Schiedsrichter überwacht. Es geht also fair zu. Das soll Streitigkeiten regulieren und Aggressionen abbauen, die im Lauf des Jahres entstanden sind.
Weihnachten hat sich verändert und wird es auch weiter tun. Was beeinflusst denn unsere Art, Weihnachten zu feiern?
Ganz bestimmt die Rolle des Glaubens. Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft. Weihnachten ist nicht mehr so christlich wie es mal war. Diese Diskussion flammt jedes Jahr wieder auf. Da sagt die Kirche, ihr feiert zwar ein Fest, aber ihr wisst gar nicht warum. Es geht nicht um die Geschenke, sondern um die Geburt Christi, dass er Mensch geworden ist und warum er Mensch geworden ist. Diese Fragen werden eigentlich von vielen ignoriert und man kann die Menschen auch nicht zwingen, sich damit auseinanderzusetzen. Es gibt auch Leute, die einen Baum aufstellen, einfach weil sie es schön finden. Weihnachten kann ja auch von Menschen gefeiert werden, die an christlichen Inhalten kein Interesse haben. Wenn man den christlichen Aspekt völlig beiseite lässt, ist es ein Familienfest, ein Fest der Liebe, des Friedens. Dinge, die dem christlichen Kern nicht widersprechen, die aber auch ohne funktionieren. Ich halte es für schwierig, wenn die Kirche das kritisiert, denn Weihnachten ist eigentlich noch die einzige Verbindung der Menschen zum Glauben. Das kann ja auch ein Anlass für den einen oder anderen sein, sich damit zu beschäftigen. Weihnachten ist inzwischen ja so allgemein geworden. Man kann es völlig ohne christlichen Hintergrund feiern. Weihnachten ist aus meiner Sicht kein exklusives, sondern ein sehr inklusives Fest.
Nun ist Weihnachten mit der Zeit auch immer kommerzieller geworden. Können Sie die Kritik daran verstehen?
ist Weihnachten ein Kommerzfest. Das ist eine richtige, gleichzeitig auch eine furchtbar banale Aussage. Aber was ist denn heutzutage nicht kommerzialisiert? Der Sport, die Kultur, die Freizeit, die Liebe. Das zieht sich durch wie ein roter Faden. Es lässt sich nur das kommerzialisieren, was die Leute
auch interessiert.
Also finden Sie nichts Schlechtes am Geschenkewahn?
Ich finde, Schenken ist etwas Positives. Der Zauber von Weihnachten kommt auch durch das ritualisierte Schenken. Man macht sich Gedanken, bereitet das vor, die Heimlichtuerei, das Verpacken der Geschenke, das Verstecken bis Heiligabend. Diese Spannung, die macht einen großen Teil des Weihnachtsfestes aus. Ob man sich dann vom Kommerz einnehmen lässt? Aus meiner Sicht sollten erwachsene Menschen in der Lage sein, das selbst zu steuern. Oder man bespricht sich in der Familie, ob man sich beschenkt oder nicht. Die Klage halte ich für wohlfeil. Einen Kritikpunkt würde ich allerdings zulassen.
Welchen?
Wenn sich Eltern keine Geschenke für ihre Kinder leisten können. Das liegt aber weniger an Weihnachten, sondern an der Gesellschaft, die Ungleichheit hervorbringt. Und das zeigt sich besonders an Weihnachten, wie auch viele andere Dinge, die in der Gesellschaft schiefliegen. Zum Beispiel die Einsamkeit alter Menschen. Die wird an Weihnachten besonders sichtbar und spürbar. Doch würde man Weihnachten abschaffen, wären weder die soziale Ungleichheit noch die Armut noch die Einsamkeit verschwunden.
Weihnachten als Fest der Familie birgt auch Potenzial für Streitigkeiten.
Viele Paare reden vor der Hochzeit über finanzielle Dinge, Erbschaften oder eine mögliche Scheidung. Aber selten ist im Ehevertrag festgelegt, welcher Schmuck an den Weihnachtsbaum kommt oder wie das Weihnachtsmenü aussieht. Manche haben noch nie über ihre Vorstellungen eines gelungenen Weihnachtsfestes gesprochen, bis die Kinder in ein bestimmtes Alter kommen. Dann gilt es, einen Kompromiss zu finden, oder einer setzt sich eben durch. Aber so egal ist das nicht, denn man verbindet das richtige Weihnachten mit dem Ablauf, den man aus seiner Kindheit kennt.
Sie würden also Ihrer Tochter gleich beim ersten Date raten, die Frage nach Weihnachten zu klären?
Das wäre selbst für mich etwas übertrieben. Aber man sollte sich darüber im Klaren sein, dass das Weihnachtsfest von der Tradition lebt. Der eine kommt aus Bayern, der andere aus Hamburg. Da gibt es unterschiedliche Traditionen, das macht man sich nicht unbedingt bewusst.
Wenn man bedenkt, welche Streitigkeiten daraus resultieren können, sollten wir vielleicht doch eine Empfehlung aussprechen.
Ja, vielleicht: es gibt keine richtige und keine falsche Art, Weihnachten zu feiern. Streiten lohnt nicht zum Fest der Liebe. Erlaubt ist, was gefällt.