Vom Blumenschützer zum Menschenretter
Die Bergwacht Schwarzwald hat dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Sie ist gefragt wie noch nie. Dies hat viel mit dem herrschenden Freizeitboom zu tun.
FREIBURG - Ein Fundstück aus den Archiven: Es ist die Ablichtung einer Belehrungstafel der Bergwacht Schwarzwald. Darauf steht: „Führt Dich der Weg durch blaue Auen, begnüge Dich die Pracht zu schauen, und pflücke Dir kein’ mächtigen Strauß, Du bringst ihn doch verwelkt nach Haus.“Daraus spricht der biedere Geist alter Sinnsprüche. Dieser stammt aus den 1920er-Jahren.
Der zeitliche Kontext ist deshalb bedeutend, weil seinerzeit die Bergwacht Schwarzwald entstand. Wenn sich jetzt der Dezember zu Ende neigt, kann sie auf ein Jubiläumsjahr zurückschauen: nämlich den Umstand, dass die Organisation seit einem Jahrhundert besteht. Gratulanten waren viele unterwegs: aus Politik, Kirche und Gesellschaft, darunter der Freiburger Erzbischof Stephan Burger. Er verglich den Einsatz der Bergwacht mit jenem des barmherzigen Samariters aus dem Neuen Testament.
Rund 1500 Ehrenamtler in 22 Ortsgruppen halten sich heutzutage fürs Helfen und Retten bereit. Bemerkenswerterweise stand dieses humanitäre Tun aber bei der Gründung vor 100 Jahren gar nicht im Vordergrund. Darauf weist bereits die erwähnte Belehrungstafel hin. Es ging mehr um eine Art Sittenwacht samt Naturschutz. Im Paragraf eins der Satzung wurde geschrieben: „Die Verletzung der guten Sitten, und die Missachtung fremden Eigentums oder der Rechte Dritter“solle bekämpft werden.
Die Idee war, Wanderer daran zu hindern, wie Chaoten über den Schwarzwald herzufallen. Was darauf hinweist, dass es schon seinerzeit eine Klientel gab, der das Zerstören von Hütten, Wegmarkierungen und Steigen Lust bereitete – oder die es für ihr Recht hielt, gleich ganze Blumenwiesen zu plündern.
Der hemmungslose Umgang mit der Botanik führte laut Überlieferung dazu, dass Polizisten manchmal an Wochenenden am Freiburger Hauptbahnhof die Rucksäcke von Fahrgästen kontrollierten. Gesucht wurden seltene Pflanzen. Ebenso hatte das Auge des Gesetzes offenbar einen Blick auf die Marktstände am Münsterplatz in Freiburgs Innenstadt.
Doch die stärkere Berücksichtigung der Bergrettung kam rasch. Als ihren Beginn verzeichnen die Chronisten der Bergwacht einen Fall aus dem Jahr 1923. Ein Wanderer war über Monate vermisst worden. Dann konnte seine Leiche aus dem Zastlertal bei Freiburg geborgen werden.
Naturgegeben war dies noch keine Rettung im eigentlichen Sinn. Drei Jahre später sah es jedoch anders aus. Am Rinken, einem Berg bei Hinterzarten, verunglückte Ende Januar ein Skiläufer. Helfer retteten ihn. Als höchst hilfreich stellte sich die eben frisch eingerichtete örtliche Unfallhilfestelle heraus. Für die Bergwacht markiert sie den Beginn ihres planmäßigen Rettungsdienstes. Naturschutz blieb zwar eine Aufgabe, aber Helfen rückte in den Vordergrund.
Der Landesvorsitzende Adrian Probst sagt dazu: „Wir fokussieren uns heute voll auf den eigentlichen Auftrag: den Bergrettungsdienst abseits befahrbarer Straßen und Wege.“Dazu käme Hilfe im Katastrophenschutz. So seien beispielsweise vor eineinhalb Jahren auch Angehörige der Schwarzwälder Bergwacht nach der Flutkatastrophe im Ahrtal vor Ort gewesen. „Die Breite der Einsätze nimmt zu“, berichtet Probst. Dies liege auch daran, dass inzwischen fast jeder draußen unterwegs sei – anders als noch vor zwei Generationen. „Da war vor allem der klassische Sommerfrischler im Schwarzwald unterwegs. Eine überschaubare Zahl.“
Mit dem Urlauberboom in den Wirtschaftswunderjahren der jungen Bundesrepublik änderte sich dies entscheidend. Massenhaft Skifahrer tauchten auf. Das Feldberggebiet wurde zur weitläufigen Wintersportarena ausgebaut. Viel später kamen dann Betreiber junger Freizeitsportarten wie Mountainbiker oder Gleitschirmflieger.
Wie sich die potenzielle Kundschaft änderte, tat dies auch die Bergwacht. Eugen Brenner, 92 Jahre alt und seit 73 Jahren Bergwachtmitglied, erinnerte sich im Jubiläumsjahr in einem Zeitungsbericht, wie Einsätze während seiner jungen Jahre abliefen. Alles sei zu Fuß oder auf Skiern bewältigt worden. Funk? Fehlanzeige. Motorschlitten habe es noch nicht gegeben.
Verletzte seien mit dem Ackja abtransportiert worden, erzählte Brenner. Der Bergwachtveteran meint damit den legendären Schlitten, der von jeweils einem Helfer hinten und vorne gesteuert wurde. Anfangs sei er noch mit schwerem Holz gebaut gewesen. Ein Bericht wie aus dem Museum. Später waren die Ackjas wenigstens leichte Alu-Konstruktionen.
Inzwischen wirken sie wie vergessene Überbleibsel längst vergangener Zeiten, sollte noch irgendwo ein solcher Schlitten an einer Bergstation lehnen.
Gehobene Technik bestimmt die Szene. Infrarot- oder Wärmebildkameras helfen beim Suchen. Drohnen gehören zur Ausrüstung. Mit Allzweckfahrzeugen kommt man weit ins Gelände. Wenn es die Sicht- und Windverhältnisse zulassen, fliegt der Rettungshubschrauber heran. Gut für Verunglückte, ebenso gut für die Helfer. Heikel aber für die Kassen von Rettungsorganisationen. Entsprechend heißt es bei der Bergwacht: „Der Finanzbedarf wird immer größer.“Ohne öffentliche Zuschüsse geht nichts mehr.
Wobei sich womöglich mancher im Flachland lebende Zeitgenosse fragt, wieso der Schwarzwald überhaupt gebirgstrainierte Helfer samt entsprechender Ausrüstung braucht. Der Feldberg als höchste Kuppe misst gerade mal 1493 Meter. Retter im steilen Fels werden landläufig eher in den Alpen verortet. Die recht imagefördernde TV-Serie „Die Bergretter“spielt im österreichischen Dachsteinmassiv.
Als Fußnote sei hier jedoch vermerkt, dass sich Bergretter selbst auf der Schwäbischen Alb bereithalten: in diesem Fall Mitglieder der Bergwacht Württemberg. Generell ist aber naheliegend, den historischen Ursprung solcher Nothelfer in den hohen Bergen zu suchen. Als erster alpiner Rettungsdienst gilt der Alpine Rettungsausschuss Wien, gegründet 1896, als die Zahl der ambitionierten Bergbesucher immer schneller in die Höhe schoss. Ursache war ein Lawinenunglück mit drei Toten im Rax-massiv, gut 80 Kilometer südwestlich der österreichischen Hauptstadt gelegen.
Doch der Schwarzwald ist auch nicht zu unterschätzen – selbst was Lawinen angeht. So sind Ende Januar 2015 zwei Skitourengeher im Feldberggebiet unter eine Lawine geraten. Die Bergwacht konnte sie noch bergen. Abends erlagen die beiden aber ihren Verletzungen.
Ein besonders tragischer Fall geschah Anfang Februar 2021 auf dem höchsten Schwarzwaldberg. Eine 27Jährige war mit ihrem Freund auf einer Schneeschuhtour unterwegs gewesen. Bis zu einem Bachlauf bei einem Wasserfall ging alles gut. Dort sollte der Weg über eine Schneebrücke gehen. Die Frau brach durch, stürzte in die Tiefe. Kurz danach rutschte eine Lawine nach. Das Opfer
lag schließlich sechs Meter unter dem Schnee. Der Bergwacht gelang erst nach Stunden die Rettung. Auch in diesem Fall starb die Frau später an ihren Verletzungen.
David Hierholzer sagte seinerzeit als Landesleiter Bergrettungsdienst, so etwas habe er noch nicht erlebt: „Das war eine sehr unglückliche Verkettung von Zuständen.“Ihn erinnerte die Situation an schneebedeckte Gletscherspalten in den Alpen. „Wenn man nicht weiß, dass da ein Loch ist, ahnt man das nicht.“
Solche Einsätze gehen psychisch wie physisch an die Grenzen der Bergwachtler, wie Hierholzer andeutete. Man glaubt es gerne. Regelfälle sind solche Dramen aber nicht. Im durchschnittlichen Alltag sorgen laut Bergwacht eher gestolperte Wanderer, verirrte Mitmenschen oder auch verletzte Mountainbiker auf einem der Schwarzwaldtrails für eine Alarmierung.
Jüngste Ereignisse fallen in diese Kategorie. Anfang Dezember waren Bergretter im Münstertal zu einem gestürzten Bergradler gerufen worden. Zudem wurde am NotschreiPass ein Mensch vermisst. 30 Einsatzkräfte suchten. Dann tauchte der Vermisste anderenorts wieder auf. In der gleichen Region fanden die Retter nächtens kurz vor Heiligabend mittels Wärmebildkamera eine 47-jährige Frau, die sich in ein steiles, vereistes Waldstück verlaufen hatte.
Wenig klassisch für eine Bergwacht sind hingegen drei weitere, in diesen Zeitraum fallende Einsätze: häusliche Sanitäterhilfe. Die Bergwacht wurde alarmiert, weil sie den am nächsten gelegenen Rettungsdienst stellte. Übers Jahr gezählt kommt so eine beträchtliche Zahl an Aktivitäten zusammen. In dem Jahrzehnt vor der Corona-Pandemie zählte die Bergwacht jährlich zwischen knapp 1200 und 1450 Einsätze. 2020 und 2021 sank die Zahl unter 1000.
Als Grund für den Rückgang wird genannt, dass während der virusbedingten Einschränkungen wesentlich weniger Gäste in den Schwarzwald gekommen sind. Zudem war das touristische Angebot eingeschränkt, etwa der Skibetrieb teilweise stillgelegt. Inzwischen steige die Einsatzzahl aber wieder, sagen Bergwachtmitglieder. Erwartbar. Der Drang nach draußen nimmt zu, attestieren Freizeitforscher wie der Wiener Professor Peter Zellmann. Wer heuer im Sommer an einem schönen Tag den Feldberg besucht hat, konnte den Eindruck bekommen, auf eine neue Völkerwanderung gestoßen zu sein.
Die Bergwacht geht davon aus, dass sie künftig noch mehr gefragt sein wird – und merkt die Notwendigkeit von zusätzlichen finanziellen Mitteln aus öffentlichen Kassen an. Unter anderem verweist ihr Landesvorsitzender Probst darauf, dass viele Bergrettungswachen dringend modernisiert werden müssten.
Die größten Projekte sind derzeit ein Neubau bei Hinterzarten sowie Erweiterungen an der bestehenden Wache Hebelhof bei der Passstraße am Feldberg. Beides zusammen addiert sich auf rund 3,1 Millionen Euro. Für den Hinterzartener Bau spendiert das Land gut die Hälfte der Kosten. Der Rest bleibt an der Bergwacht hängen. Wie es mit dem Finanziellen am Feldberg aussieht, ist öffentlich noch nicht bekannt. Wie Probst sagt, soll aber im Januar eine Lösung vorgestellt werden.
Im Gespräch mit ihm ist durchaus zu spüren, wie der Kostendruck bedrückend wirkt. Wobei ihn noch etwas Weiteres umtreibt: eine von ihm beklagte zunehmende Bürokratisierung der Vereinsarbeit. „Dies belastet die Ehrenamtler zusehends“, erklärt er. Weshalb es ihm recht wäre, wenn das Land wenigstens drei hauptamtliche Stellen für die Bergwacht finanzieren würde – Posten für die Schreibtischarbeit, Schulungen und Verwaltung. „Wer bei uns seine Freizeit opfert, will schließlich seinen Einsatz in den Dienst der Rettung stellen und nicht noch zusätzlich Papierberge bearbeiten“, meint Probst. Ein großer Trost bleibt ihm jedoch. Laut seinen Worten finden sich genug Leute, um Lücken in den Reihen der Bergwacht zu vermeiden: „Nachwuchssorgen haben wir nicht.“