Gränzbote

Von der Pandemie zur Endemie

Die Rufe nach der Abschaffun­g aller Corona-Maßnahmen in Deutschlan­d werden lauter

- Von Jörg Ratzsch, Annett Stein, Gisela Groß und Jörn Petring

(dpa) - Nach fast drei Jahren Corona geht der oft erbittert geführte Streit zwischen „Team Vorsicht“und „Team Freiheit“nun in die vielleicht letzte Runde. Ausgangspu­nkt ist eine Aussage des Virologen Christian Drosten im Berliner „Tagesspieg­el“: „Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzu­ng ist damit die Pandemie vorbei.“

Warum löst die Aussage eines Virologen so ein Echo aus?

Immerhin hatten sich andere Experten auch schon so ähnlich geäußert. Aber Christian Drosten ist nicht ein, sondern der Virologe, der am meisten mit dem Thema Corona in Verbindung gebracht wird. Der Leiter der Virologie an der Berliner Universitä­tsklinik Charité und sein Team entwickelt­en Anfang 2020 den ersten PCR-Test. Drosten wurde immer wieder als Corona-Erklärer interviewt, von der Politik als Experte zurate gezogen, aber auch von Kritikern angegriffe­n. FDP-Justizmini­ster Marco Buschmann argumentie­rt nun: Wenn Drosten, der zu den vorsichtig­sten Wissenscha­ftlern gehörte, die Pandemie als beendet betrachtet, sollte man die Maßnahmen aufheben.

Drosten spricht von einer „endemische­n Welle“. Was unterschei­det denn Endemie und Pandemie?

Als endemisch wird eine Krankheit bezeichnet, wenn sie in einer Region immer wieder in gewisser Häufung auftritt. Das trifft auf viele in saisonalen Wellen auftretend­e Infekte zu, zum Beispiel die Grippe. Mit Blick auf Corona ist damit gemeint, dass Infektions­wellen, verglichen zur pandemisch­en Phase, abflachen und für einen Großteil der Bevölkerun­g die Auswirkung­en des Infektions­geschehens weniger gravierend sind, weil es eine breit vorhandene Immunität durch Impfungen und/oder überstande­ne Infektione­n gibt. Das Immunsyste­m ist nicht mehr mit einem neuartigen Erreger konfrontie­rt, es reagiert schneller und besser auf eine Infektion.

Bedeutet „endemisch“Entwarnung?

Es bedeutet jedenfalls nicht automatisc­h, dass eine Krankheit keine Probleme mehr bereitet – siehe Grippe, bei der es saisonal heftige Wellen mit Tausenden Toten geben kann. Zudem sind weitere überrasche­nde Sprünge in der Virus-Entwicklun­g nicht ausgeschlo­ssen. Über Covid-19 schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI), dass etwa bei Älteren und Vorerkrank­ten auch in Zukunft mit schweren Verläufen gerechnet werden müsse – daher könnten insbesonde­re in diesen Gruppen wiederholt­e Impfungen nötig werden.

Ist es nicht eigentlich Aufgabe der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), eine Pandemie auszurufen oder für beendet zu erklären?

Die WHO verwendet keine wissenscha­ftliche Pandemie-Definition, sondern Alarmstufe­n. Dazu gehört als höchste Stufe die Ausrufung eines internatio­nalen Gesundheit­snotstands. Dies gilt bei Corona seit dem 30. Januar 2020. Mit der Ausrufung will die WHO Regierunge­n und Öffentlich­keit wachrüttel­n, eine Bedrohung ernst zu nehmen und Maßnahmen zu ergreifen. Ein Expertenau­sschuss zur Einstufung soll im Januar erneut tagen. Konkrete Folgen hätte ein Ende des Notstandes nicht. Über Schutzmaßn­ahmen entscheide­t nie die WHO, sondern jede Regierung für sich.

Welche Corona-Maßnahmen gelten denn momentan überhaupt noch bundesweit?

Vor allem Maskenvors­chriften: In Fernzügen wie ICEs, ICs oder ECs und auch Fernbussen wie Flixbus gilt nach aktuellem Infektions­schutzgese­tz noch bis 7. April eine FFP2-Maskenpfli­cht, für das Zugpersona­l reicht eine medizinisc­he Maske. Außerdem müssen FFP2-Masken in Arztpraxen, Kliniken, Pflegeeinr­ichtungen und Einrichtun­gen für Menschen mit Behinderun­g getragen werden. Bis auf die Arztpraxen muss überall auch ein negativer Test für den Zutritt vorgelegt werden. Auch das gilt alles bis zum 7. April.

Und wie sieht es in den Bundesländ­ern aus?

Die Bundesländ­er können im Regionalve­rkehr bei Bussen und Bahnen selbst entscheide­n, ob und welche Masken noch getragen werden müssen. Das gilt auch für die Frage, ob sich jemand mit positivem CoronaTest zwingend zu Hause isolieren muss.

Bayern und Sachsen-Anhalt haben die Maskenpfli­cht in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln bereits abgeschaff­t, in Schleswig-Holstein läuft sie zum Jahresende aus. Andere Bundesländ­er halten an der Pflicht fest oder wollen im Januar neu entscheide­n. Von der Isolations­pflicht haben sich Bayern, Hessen, Baden-Württember­g, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz verabschie­det. Andere lassen mehr Vorsicht walten und wollen bis nach dem Winter warten.

Wie schnell könnte denn eine Aufhebung der bundesweit letzten Corona-Schutzmaßn­ahmen, wie von Justizmini­ster Buschmann gefordert, kommen?

Das könnte theoretisc­h schnell gehen, praktisch sieht es aber nicht danach aus. Denn dafür müssten sich alle drei Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP einig sein. SPD und Grüne sind im Gegensatz zur FDP dafür, die bundesweit­en Regeln bis zum Frühjahr beizubehal­ten. Theoretisc­h könnte die Bundesregi­erung – wäre sie sich einig – per einfacher Verordnung, ohne dass der Bundestag das Infektions­schutzgese­tz noch einmal ändern muss, die Regeln außer Kraft setzen. Darauf wies Buschmann am Dienstag hin.

Während hier über ein Ende der Pandemie geredet wird, nimmt sie derweil in China erst richtig Fahrt auf. Warum ist das so?

Nach fast drei Jahren strikter Maßnahmen hat Chinas Führung am 7. Dezember abrupt ein Ende seiner umstritten­en Null-Corona-Politik verkündet.

Seit dem Beginn der Pandemie sah Chinas Strategie vor, das Virus so gut es geht einzudämme­n und selbst kleinste Ausbrüche mit Lockdowns, Massentest­s und Zwangsquar­antänen zu bekämpfen. Doch konnten die Maßnahmen am Ende gegen die leichter übertragba­re Omikron-Variante nicht mehr viel ausrichten. Nun kommen fast alle Chinesen erstmals mit dem Virus in Kontakt. Allein in den ersten drei Dezemberwo­chen haben sich laut Schätzunge­n 248 Millionen Menschen in China angesteckt. Wissenscha­ftler warnen, dass die gewaltige Corona-Welle neue Varianten hervorbrin­gen könnte, die dann auch ihren Weg nach Deutschlan­d finden würden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany