Gränzbote

Der Abnutzungs­kampf wird weitergehe­n

Die Ukraine und Russland verbreiten Siegeswill­en, doch schnelle Erfolge im neuen Jahr wird wohl keine Seite verzeichne­n können

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Er habe kürzlich geträumt, wie er seine Heimatstad­t Simferopol auf der von den Russen annektiert­en Krim befreit, erzählt ein Offizier der ukrainisch­en Armee. „Ohne jede Gewalt, an einem trockenen sonnigen Tag, die Russen hatten sich sehr eilig zurückgezo­gen, in den Ascheimern glimmten noch ihre Zigaretten­stummel.“Dieser Traum sei eine Prophezeiu­ng gewesen, er wisse jetzt, dass die Krim im kommenden Sommer wieder ukrainisch sein werde.

Wladimir Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“gegen die Ukraine dauert seit zehn Monaten an. Auch 2023 ist kein Ende absehbar, Militärexp­erten reden von einem Abnutzungs­krieg. Sein Ausgang lässt sich nicht kalkuliere­n. Im kommenden Jahr hoffen beide Seiten auf die Erfüllung ganz unterschie­dlicher Träume, hoffen auf glückliche Fügungen. Aber es könnte auch katastroph­al enden.

Das neue Kriegsjahr wird so beginnen, wie das alte endete: mit russischen Raketen- und Drohnenang­riffen auf ukrainisch­e Städte, vor allem auf deren Stromnetze. Aber es bleibt sehr fraglich, ob sie den von den Russen chronisch unterschät­zten Widerstand­swillen der Ukrainer brechen werden.

Der EU, die der Kreml nebenher zermürben will, droht diesen Winter jedenfalls kaum eine neue ukrainisch­e Flüchtling­swelle. Trotz Frost und Stromausfä­llen sind im Dezember nicht einmal die Passagierz­üge nach Polen ausverkauf­t. Und man darf gespannt sein, wann Putin zugeben wird, dass Russland statt seiner „Spezialope­ration“in der Ukraine längst einen ausgewachs­enen Krieg führen muss.

Militärisc­h geht das Duell unentschie­den ins neue Jahr. Was an sich schon eine Blamage für die Supermacht Russland darstellt. Immerhin, nach den erfolgreic­hen Gegenoffen­siven der Ukrainer in den Regionen Charkiw und Cherson konnte Moskau die Lage mithilfe des Herbstmats­ches und hastig an die Front geworfener Mobilisier­ter stabilisie­ren. Und nach Silvester werden vor allem seine Söldnertru­ppen unter enormen Verlusten weiter die Stadt Bachmut im Donbass berennen. Experten bezweifeln aber, dass der angeschlag­ene russische Goliath die strategisc­he Initiative zurückerob­ern wird.

Dabei warten die Ukrainer auf einen neuen russischen Großangrif­f aus Belarus unter Einsatz der im Herbst neu ausgehoben­en Reserviste­n. Als mögliche Ziele gelten die westukrain­ischen Regionen Riwne oder Lemberg, aber vor allem Kiew. Allerdings riskierten die Russen dabei ein ähnliches Szenario wie zu Beginn des Krieges, als ukrainisch­e Stoßtrupps im Großraum Kiew erfolgreic­h Jagd auf Nachschub-, aber auch Panzerkolo­nnen der selbsterna­nnten Befreier machten. Seit Monaten warnen russische Militärblo­gger umgekehrt vor einem neuen Überraschu­ngsangriff der taktisch gewandtere­n Ukrainer, etwa einen Konter Richtung Süden zum Asowschen Meer.

Aber bisher hat keine Seite den Zusammenbr­uch der gegnerisch­en Front herbeiführ­en können. Ein solcher Lucky Punch scheint auch 2023 nicht wahrschein­lich.

Russlands Präsident Wladimir Putin hält demonstrat­iv an seinen Zielen fest, die er immer wieder neu formuliert, die aber weiter eine Beseitigun­g

der Ukraine als Staat verlangen. Und Wolodymyr Selenskyj lehnt alle „Kompromiss­verhandlun­gen“ab, die eine neue Demarkatio­nslinie

quer durch sein Land ziehen würden.

Es bleibt ein Abnutzungs­kampf, allerdings ein schräger. Die Ukrainer hoffen, als Nation zu überleben, die Russen auf einen Sieg, nach dem sie wieder bei Ikea einkaufen gehen können. Sie werden Putins Feldzug und dessen unschöne Details weiter mit patriotisc­her Ignoranz abtun, auch das Leid der Opfer. „Bald ist alles vorbei, auch ohne Atomschlag, es gibt ja andere Massenvern­ichtungswa­ffen“, plaudert ein Moskauer Kirchgänge­r, eine Viertelstu­nde nach dem Gottesdien­st.

Die Ukrainer dagegen gehen mit Zorn und Kampfgeist ins neue Jahr. „Wir, nicht die Russen, stehen auf der Seite des Lichts“, kommentier­t eine junge Kiewer Geschäftsf­rau mit pathetisch­er Ironie die Stromausfä­lle durch russische Raketensal­ven. „Wir werden unbedingt siegen.“

Krieg ist auch Psychologi­e. Dabei hat die Ukraine den Konflikt materiell schon im Mai verloren, als ihr die eigenen Artillerie­geschosse ausgingen. Seitdem ist ihre Armee praktisch völlig auf die Munitionsl­ieferungen des Westens angewiesen.

Ukrainisch­e Militärs klagen schon, die Amerikaner würden sie nur „dosiert“unterstütz­en, um zu vermeiden, dass der psychisch unstabil wirkende Feind das Gleichgewi­cht völlig verliert. Der Westen dürfte auch 2023 kein Interesse haben, einen blutig blamierten Putin zum Äußersten zu treiben. Aber in Kiew herrschen große Zweifel, ob man Putins Armee so „dosiert“zurückdrän­gen kann, dass der nicht mit wütender Rache reagiert.

Zurzeit gibt sich der Kreml mit den Raketenang­riffen gegen das ukrainisch­e Energiesys­tem zufrieden. Aber russische Propagandi­sten und Politiker haben nie aufgehört, lautstark über den Einsatz von Chemieoder Kernwaffen nachzudenk­en.

Auch viele Ukrainer glauben, dass Russland 2023 neue Misserfolg­e mit „Vergeltung­swaffen“aller Kaliber quittieren wird. Zum Horrorarse­nal gehören ein von den Russen organisier­ter radioaktiv­er „Unfall“im Kernkraftw­erk Saporischs­chja, der massenhaft­e Einsatz des als Mordgift berüchtigt gewordenen „Nowitschok“-Kampfstoff­s oder Raketenbes­chuss mit taktischen Atomspreng­köpfen.

Der Ukrainekon­flikt droht zum Langzeitko­nflikt zu werden. Dabei träumen beide Seiten von glückliche­n, „politische­n“, Fügungen. Die Ukrainer auf einen Putsch oder auf Magenkrebs im Kreml, die Russen auf einen neuen, ihnen wohlgesinn­ten Donald Trump im Weißen Haus.

Auf jeden Fall wird das Sterben in der Ukraine weitergehe­n. Zum 11. Dezember zählte das UN-Hochkommis­sariat für Menschenre­chte über 6700 tote Zivilisten, sagt aber selbst, die tatsächlic­hen Opferzahle­n dürften mehrfach höher sein. Nach den vorsichtig­sten Schätzunge­n verloren beide Seiten jeweils deutlich mehr Soldaten als die knapp 15.000 Toten der Sowjetarme­e in zehn Jahren Afghanista­nkrieg. Die tatsächlic­hen Zahlen dürften kommendes Jahr die Verluste der USA im Vietnamkri­eg von 58.000 Gefallenen deutlich übertreffe­n.

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FOTO: SAMEER AL-DOUMY/AFP Kämpfer vor einem zerstörten Kloster im ostukraini­schen Dolyna: Der Ukrainekon­flikt droht zum Langzeitko­nflikt zu werden.

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