Der Abnutzungskampf wird weitergehen
Die Ukraine und Russland verbreiten Siegeswillen, doch schnelle Erfolge im neuen Jahr wird wohl keine Seite verzeichnen können
MOSKAU - Er habe kürzlich geträumt, wie er seine Heimatstadt Simferopol auf der von den Russen annektierten Krim befreit, erzählt ein Offizier der ukrainischen Armee. „Ohne jede Gewalt, an einem trockenen sonnigen Tag, die Russen hatten sich sehr eilig zurückgezogen, in den Ascheimern glimmten noch ihre Zigarettenstummel.“Dieser Traum sei eine Prophezeiung gewesen, er wisse jetzt, dass die Krim im kommenden Sommer wieder ukrainisch sein werde.
Wladimir Putins „Kriegsspezialoperation“gegen die Ukraine dauert seit zehn Monaten an. Auch 2023 ist kein Ende absehbar, Militärexperten reden von einem Abnutzungskrieg. Sein Ausgang lässt sich nicht kalkulieren. Im kommenden Jahr hoffen beide Seiten auf die Erfüllung ganz unterschiedlicher Träume, hoffen auf glückliche Fügungen. Aber es könnte auch katastrophal enden.
Das neue Kriegsjahr wird so beginnen, wie das alte endete: mit russischen Raketen- und Drohnenangriffen auf ukrainische Städte, vor allem auf deren Stromnetze. Aber es bleibt sehr fraglich, ob sie den von den Russen chronisch unterschätzten Widerstandswillen der Ukrainer brechen werden.
Der EU, die der Kreml nebenher zermürben will, droht diesen Winter jedenfalls kaum eine neue ukrainische Flüchtlingswelle. Trotz Frost und Stromausfällen sind im Dezember nicht einmal die Passagierzüge nach Polen ausverkauft. Und man darf gespannt sein, wann Putin zugeben wird, dass Russland statt seiner „Spezialoperation“in der Ukraine längst einen ausgewachsenen Krieg führen muss.
Militärisch geht das Duell unentschieden ins neue Jahr. Was an sich schon eine Blamage für die Supermacht Russland darstellt. Immerhin, nach den erfolgreichen Gegenoffensiven der Ukrainer in den Regionen Charkiw und Cherson konnte Moskau die Lage mithilfe des Herbstmatsches und hastig an die Front geworfener Mobilisierter stabilisieren. Und nach Silvester werden vor allem seine Söldnertruppen unter enormen Verlusten weiter die Stadt Bachmut im Donbass berennen. Experten bezweifeln aber, dass der angeschlagene russische Goliath die strategische Initiative zurückerobern wird.
Dabei warten die Ukrainer auf einen neuen russischen Großangriff aus Belarus unter Einsatz der im Herbst neu ausgehobenen Reservisten. Als mögliche Ziele gelten die westukrainischen Regionen Riwne oder Lemberg, aber vor allem Kiew. Allerdings riskierten die Russen dabei ein ähnliches Szenario wie zu Beginn des Krieges, als ukrainische Stoßtrupps im Großraum Kiew erfolgreich Jagd auf Nachschub-, aber auch Panzerkolonnen der selbsternannten Befreier machten. Seit Monaten warnen russische Militärblogger umgekehrt vor einem neuen Überraschungsangriff der taktisch gewandteren Ukrainer, etwa einen Konter Richtung Süden zum Asowschen Meer.
Aber bisher hat keine Seite den Zusammenbruch der gegnerischen Front herbeiführen können. Ein solcher Lucky Punch scheint auch 2023 nicht wahrscheinlich.
Russlands Präsident Wladimir Putin hält demonstrativ an seinen Zielen fest, die er immer wieder neu formuliert, die aber weiter eine Beseitigung
der Ukraine als Staat verlangen. Und Wolodymyr Selenskyj lehnt alle „Kompromissverhandlungen“ab, die eine neue Demarkationslinie
quer durch sein Land ziehen würden.
Es bleibt ein Abnutzungskampf, allerdings ein schräger. Die Ukrainer hoffen, als Nation zu überleben, die Russen auf einen Sieg, nach dem sie wieder bei Ikea einkaufen gehen können. Sie werden Putins Feldzug und dessen unschöne Details weiter mit patriotischer Ignoranz abtun, auch das Leid der Opfer. „Bald ist alles vorbei, auch ohne Atomschlag, es gibt ja andere Massenvernichtungswaffen“, plaudert ein Moskauer Kirchgänger, eine Viertelstunde nach dem Gottesdienst.
Die Ukrainer dagegen gehen mit Zorn und Kampfgeist ins neue Jahr. „Wir, nicht die Russen, stehen auf der Seite des Lichts“, kommentiert eine junge Kiewer Geschäftsfrau mit pathetischer Ironie die Stromausfälle durch russische Raketensalven. „Wir werden unbedingt siegen.“
Krieg ist auch Psychologie. Dabei hat die Ukraine den Konflikt materiell schon im Mai verloren, als ihr die eigenen Artilleriegeschosse ausgingen. Seitdem ist ihre Armee praktisch völlig auf die Munitionslieferungen des Westens angewiesen.
Ukrainische Militärs klagen schon, die Amerikaner würden sie nur „dosiert“unterstützen, um zu vermeiden, dass der psychisch unstabil wirkende Feind das Gleichgewicht völlig verliert. Der Westen dürfte auch 2023 kein Interesse haben, einen blutig blamierten Putin zum Äußersten zu treiben. Aber in Kiew herrschen große Zweifel, ob man Putins Armee so „dosiert“zurückdrängen kann, dass der nicht mit wütender Rache reagiert.
Zurzeit gibt sich der Kreml mit den Raketenangriffen gegen das ukrainische Energiesystem zufrieden. Aber russische Propagandisten und Politiker haben nie aufgehört, lautstark über den Einsatz von Chemieoder Kernwaffen nachzudenken.
Auch viele Ukrainer glauben, dass Russland 2023 neue Misserfolge mit „Vergeltungswaffen“aller Kaliber quittieren wird. Zum Horrorarsenal gehören ein von den Russen organisierter radioaktiver „Unfall“im Kernkraftwerk Saporischschja, der massenhafte Einsatz des als Mordgift berüchtigt gewordenen „Nowitschok“-Kampfstoffs oder Raketenbeschuss mit taktischen Atomsprengköpfen.
Der Ukrainekonflikt droht zum Langzeitkonflikt zu werden. Dabei träumen beide Seiten von glücklichen, „politischen“, Fügungen. Die Ukrainer auf einen Putsch oder auf Magenkrebs im Kreml, die Russen auf einen neuen, ihnen wohlgesinnten Donald Trump im Weißen Haus.
Auf jeden Fall wird das Sterben in der Ukraine weitergehen. Zum 11. Dezember zählte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte über 6700 tote Zivilisten, sagt aber selbst, die tatsächlichen Opferzahlen dürften mehrfach höher sein. Nach den vorsichtigsten Schätzungen verloren beide Seiten jeweils deutlich mehr Soldaten als die knapp 15.000 Toten der Sowjetarmee in zehn Jahren Afghanistankrieg. Die tatsächlichen Zahlen dürften kommendes Jahr die Verluste der USA im Vietnamkrieg von 58.000 Gefallenen deutlich übertreffen.