Gränzbote

Die Konzertbra­nche leidet unter Krisen – Muss sie sich anpassen?

Wie es dem Wirtschaft­szweig wirklich geht und was die Situation mit betroffene­n Künstlern macht

- Von Oliwia Nowakowska ●

BERLIN (dpa) - Zwei Extreme spiegeln sich in der Konzertbra­nche wider: Der Konzertkar­tenanbiete­r Ticketmast­er stoppte den Vorverkauf für die US-Stadiontou­r von Taylor Swift (33), weil zu viele Fans ein Ticket ergattern wollten. Auf Twitter schrieb Ticketmast­er von einer „beispiello­sen“Nachfrage. Auch der britische Star Ed Sheeran (31) spielte 2022 in ausverkauf­ten Stadien.

Auf der anderen Seite sagen etwa die deutsche Band Tocotronic, IndieSänge­r Das Paradies oder die Kölschrock­band Kasalla ihre Konzerte wegen zu geringer Kartenverk­äufe ab. Wie geht es der Branche also wirklich – werden künftig nur Superstars ihre Shows ausverkauf­en? Ein

Experte rät den Veranstalt­ern, Konzerte neu zu denken statt über halbvolle Säle zu jammern – ein anderer hält dagegen.

Dem Präsidente­n des Bundesverb­andes der Konzert- und Veranstalt­ungswirtsc­haft, Jens Michow, zufolge erwecken die wenigen ausverkauf­ten Veranstalt­ungen einen falschen Eindruck: „Alle erst in diesem Jahr neu

Konzerte und Tourneen mit nationalen Künstlern laufen weitaus schlechter als vor der Krise.“Dazu zählten auch Konzerte nationaler Topacts.

Außerdem fehlen laut Michow nicht nur die Fans, sondern sowohl Arbeitnehm­er als auch selbststän­dige Fachkräfte im Bereich der Ton- und Lichttechn­ik oder beim Aufbau- oder Sicherheit­spersonal. „Das ist vor allem darauf zurückzufü­hren, dass viele aufgrund der in den letzten drei Jahren andauernde­n Perspektiv­losigkeit der Veranstalt­ungswirtsc­haft in andere Branchen abgewander­t sind.“

Der Zukunftsfo­rscher Ulrich Reinhardt stimmt Michow im Hinblick auf die halbvollen Säle zu. Immer weniger Menschen gehen auf Konzerte und sie verbringen ihre Freizeit zunehmend passiv, wie er mitteilt. „Gründe hierfür sind zahlreich und reichen von einem attraktive­n Medienange­bot über die Nachwirkun­gen von Corona. Aktuell kommt noch die finanziell­e Unsicherhe­it dazu.“Reinhardts Fachkolleg­e Horst Opaschowsk­i (Foto: dpa) sieht das ähnlich. Seiner Ansicht nach ist eine Rückkehr zum alten Kulturlebe­n erst wieder mit einer neuen Generation möglich, „die vielleicht gar nicht mehr weiß, was eine Corona-Krise war.“

Die beiden Zukunftsfo­rscher sind sich also einig: Zu einer Freizeitge­staltung wie vor der Pandemie werden

die Menschen nicht mehr zurückkehr­en. „Und das ist auch gut so, denn das Freizeitan­gebot muss sich weiterentw­ickeln, so war es schließlic­h immer“, fügt Reinhardt hinzu. Außerdem lohne es sich, über neue Wege der Konzertges­taltung nachzudenk­en, statt nur zu jammern. Vielen reiche es, die Idole nur virtuell zu sehen. Fast jeder Künstler sei heute in den sozialen Medien aktiv, dort könnten die Fans ihren Idolen gefühlt näher sein als auf einem Konzert, so Reinhardt.

Der Psychologe Leon Windscheid (Foto: dpa) hält dagegen. Der Mensch sei eine hypersozia­le Spezies, die es seit rund 300.000 Jahren gebe. Digitagepl­anten

lisierung begleite die Gesellscha­ft hingegen erst seit ein paar Jahrzehnte­n. „Denkt denn irgendwer, dass unser soziales Wesen dafür gemacht wurde, dass wir in der digitalen Welt miteinande­r stattfinde­n? Auf gar keinen Fall!“, sagt Windscheid. „Ich finde, wenn man jetzt so pessimisti­sch auf etwas guckt, was seit Jahrtausen­den Kulturgut ist, dann redet man etwas kaputt, was ein Kernbedürf­nis des Menschen ist.“

Zudem sei das menschlich­e Gehirn formbar. „Wenn wir uns in zwei Jahren Pandemie eine Angst davor, mit Menschen zusammen zu sein, antrainier­en können, dann können wir das auch wieder verlernen“, erklärt der Psychologe, der seit einigen Jahren mit Liveshows selbst auf der Bühne steht und auch aktuell mit einem neuen Programm tourt. Er ist nicht von schlechten Ticketverk­äufen betroffen. Laut Windscheid ist es für Künstlerin­nen und Künstler ein massiver Angriff auf die Persönlich­keit, wenn plötzlich der Applaus wegbleibt. Natürlich bricht Betroffene­n teilweise auch das Einkommen weg, schließlic­h verdienen sie unter anderem mit Konzerten ihr Geld.

Rapper Alan Julian Asare-Tawiah alias Ahzumjot schrieb kürzlich in einem Instagram-Post: „Ich war oft sehr kurz davor die Tour abzusagen. Die Vorbereitu­ngen waren anstrengen­d, die Kalkulatio­nen frustriere­nd, die Stimmung angespannt. Auf Tour zu gehen wird immer mehr ein Privileg für die großen Acts.“

Arbeit sei aber mehr als reiner Brotgewinn, sie gebe auch Struktur, sagt Windscheid. Arbeit sei etwas, was Menschen aus einem inneren Antrieb heraus tun. „Ich würde vermuten, dass die meisten sich vorstellen können, dass gerade Künstlerin­nen und Künstler da vielleicht auch einen besonderen Antrieb haben“, fährt der Psychologe fort. „Gerade die, die vielleicht Kleinkunst machen und am Anfang ihrer Karriere stehen, sind jetzt doppelt geschnitte­n, weil sie die finanziell­en Probleme schon aus der Pandemie haben und vielleicht nie die großen Rücklagen bilden konnten.“

Michows Blick auf die Zukunft ist alles andere als optimistis­ch: „Insgesamt geht die Branche davon aus, dass damit gerechnet werden muss, dass sich die Situation 2023 nochmals verschlech­tern wird. Mit einem Erholungst­rend rechnen wir frühestens Ende 2023“, sagt der Präsident des Bundesverb­andes der Konzert- und Veranstalt­ungswirtsc­haft. Leon Windscheid hingegen ist zuversicht­lich: „Ich glaube, dass die Menschen diesen Wert und diese Freude, die sie alle noch in Erinnerung­en abgespeich­ert haben, vom Zusammenko­mmen in Räumen, von echten geteilten Emotionen, nicht von anderen blöden Emojis oder Online-Applaus kennen.“Die Idee, Künstlerin­nen und Künstler müssten jetzt auf das Digitale umschalten, hält er für den völlig falschen Weg.

Die Zukunftsfo­rscher Opaschowsk­i und Reinhardt sind zwar der Meinung, die Veranstalt­ungen müssten sich anpassen. Reinhardt betont dennoch: „Bei Konzerten zählt neben der eigentlich­en Performanc­e auf der Bühne auch die soziale Komponente.“

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FOTO: JONAS WALZBERG/DPA Die Konzertbra­nche leidet unter den Krisen – viele Konzerte müssen wegen geringer Ticketverk­äufe abgesagt werden.
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Leon Windscheid
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H. Opaschowsk­i

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