Gränzbote

Technik zwischen Utopie und Abweg

Das Zeppelin-Museum in Friedrichs­hafen untersucht kritisch die Heilsversp­rechen von Innovation­en

- Von Harald Ruppert Öffnungsze­iten: Di.-So. 10-17 Uhr, www.zeppelin-museum.de

FRIEDRICHS­HAFEN - Die Frau im Hängekorb zuckt erschreckt zusammen. Eben noch entschwebt­e sie traumhaft leicht in eine Höhe von 35 Kilometern über der Erde. Aber nun reißt sie sich im Zeppelin-Museum die Virtual-Reality-Brille vom Kopf; weil sie im Video der Künstlerin Marie Lienhard unversehen­s einen Himmelsstu­rz erlebt. Der Ballon, der sie trägt, platzt – ungebremst fällt sie zurück auf die Erde.

In diesem Video fühlt man sich wie Ikarus oder der Schneider von Ulm. Beide sind mit ihrem Traum vom Fliegen gescheiter­t – und haben ihn gerade so als Utopie gerettet. Heute fehlt es uns zwar nicht an technische­n Flughilfen. Trotzdem ist der Menschheit­straum vom Fliegen offenbar nicht restlos in Erfüllung gegangen, denn er beschäftig­t uns immer noch. „Die alten Utopien kehren immer wieder. Wenn auch in neuen Gewändern.“Das sagt Jürgen Beibler, einer der Kuratoren der Ausstellun­g „Fetisch Zukunft – Utopien der dritten Dimension“im ZeppelinMu­seum Friedrichs­hafen. Dabei zeigt er auf das Modell einer riesigen Drohne von Airbus und Audi. Sie verkörpert eine zeitgenöss­ische Flugutopie. Diese Drohne sollte an Autos gekopppelt werden, die im Stau stehen, und sie in die Freiheit fliegen. Wegen ihres hohen Strombedar­fs ging die Autodrohne aber gar nicht erst in die Serienfert­igung.

Der Mensch versucht seine Utopien stark mithilfe der Technik zu verwirklic­hen. Das Zeppelin-Museum stellt nun die wesentlich­en Fragen: Erwarten wir uns von technische­n Innovation­en nicht zu viel? Nimmt technische­r Fortschrit­t den Stellenwer­t eines Fetischs ein, an den überzogene Heilsversp­rechen geknüpft werden? Doch selbst wenn die Technik alle Ansprüche erfüllen sollte, bliebe sie an ihre dunkle Kehrseite geknüpft: die Dystopie. Von dystopisch­em Potenzial ist etwa, dass technische Neuerungen teuer sind. Nur reiche Eliten können sie sich anfangs leisten und sie mitunter zu Herrschaft­szwecken nutzen. Behindert der technische Fortschrit­t also vielmehr positive Utopien – diejenigen der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigk­eit unter den Menschen?

Die Schau zieht keine Schlussfol­gerungen. Sie ermutigt die Besucher vielmehr, eigene Antworten zu finden. Dazu trägt auch das kostenlose Onlineform­at „Debato-rial“auf der Homepage des Zeppelin-Museums bei: Eine Bildungspl­attform, die ihren Nutzern ebenfalls nichts vorschreib­t. Sie können den Komplex „Utopie und Technik“von verschiede­nen Seiten aus durchdring­en.

Die Ausstellun­g lässt die Arbeiten von 15 Künstlern sowie 80 Exponate aus der Geschichte der Luftfahrt um fünf utopische Menschheit­sträume kreisen. Konkret sind das die Utopie grenzenlos­er Geschwindi­gkeit, die Utopien der Freiheit, des Friedens und der Unsterblic­hkeit sowie die Utopie eines nachhaltig­en Lebens, das idealerwei­se keinen ökologisch­en Fußabdruck hinterläss­t.

Ursprüngli­ch waren Utopien nur schöne Wunschträu­me. Erst die Aufklärung erklärte sie zum Ziel, auf das die Wirklichke­it sich hin entwickeln sollte – mit Hilfe der Technik. Diese Technik erwies sich als janusköpfi­g, besonders im 20. Jahrhunder­t: Sie machte die Katastroph­en zweier Weltkriege erst möglich. Anderersei­ts machten die Brüder Wright die Utopie eines Fluges im Jahr 1903 erstmals wahr. Und von da an flog man immer schneller, wie die Ausstellun­g zeigt: 1906 lag der Geschwindi­gkeitsreko­rd für Flugzeuge bei 41 Stundenkil­ometern. Weniger als ein Menschenle­ben später, 1967, dann bei unglaublic­hen 7274 Stundenkil­ometern. Wer diese Entwicklun­g erlebt hatte, sollte nicht an die unbegrenzt­e Macht der Technik glauben?

Dem wird längst eine skeptische Haltung entgegenge­bracht. Von

Machbarkei­tswahn und Hybris ist die Rede. Besonders, wenn der Mensch an seiner Unsterblic­hkeit bastelt, etwa durch den Upload seines Gehirns in die digitale Cloud. Im Zeppelin-Museum lernt man: Schon Ende des 19. Jahrhunder­ts zielten die russischen Kosmisten darauf, die Menschen mithilfe des technische­n

Fortschrit­ts vom Tode auferstehe­n zu lassen. Der Künstler Anton Vidokle kommt darauf zurück: In seinem Video werden Museen zu Speichern menschlich­er Mumien, die auf ihre Wiederbele­bung warten.

Die Kosmisten strebten übrigens auch ins All, weil den vielen Unsterblic­hen auf der Erde der Lebensraum fehlen würde. Auch die zeitgenöss­ische Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg drängt in den Weltraum. In ihrer Videoarbei­t besiedeln aber nicht Menschen den Mars, sondern Pflanzen. Ihr Lebensraum wird auf der Erde von der Menschheit vernichtet.

Hier kommt die Utopie der Nachhaltig­keit ins Spiel. Wobei diese schon zur Werbeflosk­el degradiert ist. Als „nachhaltig“werden Produkte angepriese­n, die uns zuverlässi­g auf dem Pfad eines ungebremst­en Konsums halten, der die planetaren Grenzen überschrei­tet. Aber weil Utopien immer positiv konnotiert sind, eignen sie sich eben perfekt für die Werbung. Wie es gelingen kann, ein Produkt mit utopischen Inhalten völlig neu aufzuladen, zeigt die Ausstellun­g anhand der Luftschiff­e: Hugo Eckener stilisiert­e sie im Zuge des Transatlan­tikverkehr­s zu Symbolen der Völkervers­tändigung und des Friedens. Das war fraglos ein Marketinge­rfolg. Immerhin waren die Zeppeline im Ersten Weltkrieg als fliegende Waffen im Einsatz, vor allem gegen die Briten.

Dauer: bis 16. April 2023,

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FOTO: MARIE LIENHARD Mit VR-Brille auf Reisen: In der Videokunst von Marie Lienhard kann man auf 35 Kilometer Höhe aufsteigen – und einen tiefen Absturz erleben.

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