Technik zwischen Utopie und Abweg
Das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen untersucht kritisch die Heilsversprechen von Innovationen
FRIEDRICHSHAFEN - Die Frau im Hängekorb zuckt erschreckt zusammen. Eben noch entschwebte sie traumhaft leicht in eine Höhe von 35 Kilometern über der Erde. Aber nun reißt sie sich im Zeppelin-Museum die Virtual-Reality-Brille vom Kopf; weil sie im Video der Künstlerin Marie Lienhard unversehens einen Himmelssturz erlebt. Der Ballon, der sie trägt, platzt – ungebremst fällt sie zurück auf die Erde.
In diesem Video fühlt man sich wie Ikarus oder der Schneider von Ulm. Beide sind mit ihrem Traum vom Fliegen gescheitert – und haben ihn gerade so als Utopie gerettet. Heute fehlt es uns zwar nicht an technischen Flughilfen. Trotzdem ist der Menschheitstraum vom Fliegen offenbar nicht restlos in Erfüllung gegangen, denn er beschäftigt uns immer noch. „Die alten Utopien kehren immer wieder. Wenn auch in neuen Gewändern.“Das sagt Jürgen Beibler, einer der Kuratoren der Ausstellung „Fetisch Zukunft – Utopien der dritten Dimension“im ZeppelinMuseum Friedrichshafen. Dabei zeigt er auf das Modell einer riesigen Drohne von Airbus und Audi. Sie verkörpert eine zeitgenössische Flugutopie. Diese Drohne sollte an Autos gekopppelt werden, die im Stau stehen, und sie in die Freiheit fliegen. Wegen ihres hohen Strombedarfs ging die Autodrohne aber gar nicht erst in die Serienfertigung.
Der Mensch versucht seine Utopien stark mithilfe der Technik zu verwirklichen. Das Zeppelin-Museum stellt nun die wesentlichen Fragen: Erwarten wir uns von technischen Innovationen nicht zu viel? Nimmt technischer Fortschritt den Stellenwert eines Fetischs ein, an den überzogene Heilsversprechen geknüpft werden? Doch selbst wenn die Technik alle Ansprüche erfüllen sollte, bliebe sie an ihre dunkle Kehrseite geknüpft: die Dystopie. Von dystopischem Potenzial ist etwa, dass technische Neuerungen teuer sind. Nur reiche Eliten können sie sich anfangs leisten und sie mitunter zu Herrschaftszwecken nutzen. Behindert der technische Fortschritt also vielmehr positive Utopien – diejenigen der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit unter den Menschen?
Die Schau zieht keine Schlussfolgerungen. Sie ermutigt die Besucher vielmehr, eigene Antworten zu finden. Dazu trägt auch das kostenlose Onlineformat „Debato-rial“auf der Homepage des Zeppelin-Museums bei: Eine Bildungsplattform, die ihren Nutzern ebenfalls nichts vorschreibt. Sie können den Komplex „Utopie und Technik“von verschiedenen Seiten aus durchdringen.
Die Ausstellung lässt die Arbeiten von 15 Künstlern sowie 80 Exponate aus der Geschichte der Luftfahrt um fünf utopische Menschheitsträume kreisen. Konkret sind das die Utopie grenzenloser Geschwindigkeit, die Utopien der Freiheit, des Friedens und der Unsterblichkeit sowie die Utopie eines nachhaltigen Lebens, das idealerweise keinen ökologischen Fußabdruck hinterlässt.
Ursprünglich waren Utopien nur schöne Wunschträume. Erst die Aufklärung erklärte sie zum Ziel, auf das die Wirklichkeit sich hin entwickeln sollte – mit Hilfe der Technik. Diese Technik erwies sich als janusköpfig, besonders im 20. Jahrhundert: Sie machte die Katastrophen zweier Weltkriege erst möglich. Andererseits machten die Brüder Wright die Utopie eines Fluges im Jahr 1903 erstmals wahr. Und von da an flog man immer schneller, wie die Ausstellung zeigt: 1906 lag der Geschwindigkeitsrekord für Flugzeuge bei 41 Stundenkilometern. Weniger als ein Menschenleben später, 1967, dann bei unglaublichen 7274 Stundenkilometern. Wer diese Entwicklung erlebt hatte, sollte nicht an die unbegrenzte Macht der Technik glauben?
Dem wird längst eine skeptische Haltung entgegengebracht. Von
Machbarkeitswahn und Hybris ist die Rede. Besonders, wenn der Mensch an seiner Unsterblichkeit bastelt, etwa durch den Upload seines Gehirns in die digitale Cloud. Im Zeppelin-Museum lernt man: Schon Ende des 19. Jahrhunderts zielten die russischen Kosmisten darauf, die Menschen mithilfe des technischen
Fortschritts vom Tode auferstehen zu lassen. Der Künstler Anton Vidokle kommt darauf zurück: In seinem Video werden Museen zu Speichern menschlicher Mumien, die auf ihre Wiederbelebung warten.
Die Kosmisten strebten übrigens auch ins All, weil den vielen Unsterblichen auf der Erde der Lebensraum fehlen würde. Auch die zeitgenössische Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg drängt in den Weltraum. In ihrer Videoarbeit besiedeln aber nicht Menschen den Mars, sondern Pflanzen. Ihr Lebensraum wird auf der Erde von der Menschheit vernichtet.
Hier kommt die Utopie der Nachhaltigkeit ins Spiel. Wobei diese schon zur Werbefloskel degradiert ist. Als „nachhaltig“werden Produkte angepriesen, die uns zuverlässig auf dem Pfad eines ungebremsten Konsums halten, der die planetaren Grenzen überschreitet. Aber weil Utopien immer positiv konnotiert sind, eignen sie sich eben perfekt für die Werbung. Wie es gelingen kann, ein Produkt mit utopischen Inhalten völlig neu aufzuladen, zeigt die Ausstellung anhand der Luftschiffe: Hugo Eckener stilisierte sie im Zuge des Transatlantikverkehrs zu Symbolen der Völkerverständigung und des Friedens. Das war fraglos ein Marketingerfolg. Immerhin waren die Zeppeline im Ersten Weltkrieg als fliegende Waffen im Einsatz, vor allem gegen die Briten.
Dauer: bis 16. April 2023,