Gränzbote

Tuttlingen – seit 1973 ein „Drei-Länder-Kreis“

Der Kreis ist ein Gewinner der Reform von vor 50 Jahren – Gebiet gewinnt Gemeinden hinzu

- Von Dieter Kleibauer ●

- Nur mal angenommen. Die grün-schwarze Landesregi­erung stößt eine große Reform an: Die Zahl der Stadt- und Landkreise soll dauerhaft verringert werden. Die Zahl der Gemeinden ebenfalls, landauf-landab sind Eingemeind­ungen und Vereinigun­gen geplant. Vorstellba­r? Was wäre da wohl los! Proteste überall, Parolen wie „Hände weg von…!“, Demonstrat­ionen, Unterschri­ftenaktion­en, wilde Wortgefech­te, im Landtag und zwischen Dörfern und Städten. Und sei die These gewagt: Keine Partei in Stuttgart wird ein solches Vorhaben versuchen. Damit würde man sich nur die Finger verbrennen.

Vor 50 Jahren ist es gelungen. Manchmal mit Schmerzen, in einzelnen Fällen sogar vor Gericht, hier und da geräuschlo­s, dort nach langen Verhandlun­gen. Manchmal wurde um Orte wie auf dem Bazar gefeilscht. Am 1. Januar 1973 trat die landesweit­e Kreisrefor­m in Kraft – und der Landkreis Tuttlingen gehörte zu den Gewinnern. Er wurde nicht, wie andere Kreise, aufgelöst, sondern sogar vergrößert. Er hat Gemeinden hinzugewon­nen, kaum welche abgegeben und ist seitdem prosperier­t wie wenige andere Regionen landesweit. Ein Stück dieser Erfolgsges­chichte mag wohl auch der Kreisrefor­m zuzuschrei­ben sein.

Seit jenem 1. Januar 1973 ist der Landkreis Tuttlingen auch gewisserma­ßen ein Miniatur-Modell des Landes Baden-Württember­g, das selbst erst 1970 in der heutigen Form endgültig zusammenge­funden hatte, nach der Volksabsti­mmung über den Verbleib Badens. Drei Jahre später, in eben jener Kreisrefor­m, fügte das Land im Kreis Tuttlingen Gemeinden aus den drei früheren Landesteil­en in die neuen Grenzen ein: Aus den Gegenden um Tuttlingen und Spaichinge­n kamen die württember­gischen Orte, neu hinzu traten Kommunen aus dem badischen Landesteil, namentlich aus den aufgelöste­n Kreisen Donaueschi­ngen und Stockach – und, eine Besonderhe­it, aus Hohenzolle­rn kam Bärenthal nach Tuttlingen, das auf diese Weise ein preußische­s Element mitbrachte. Damit war und ist der Landkreis ein „Baden-Württember­g im Kleinen“.

Doch während das kleine Bärenthal keine großen Verwerfung­en auslöste, taten sich die badischen Gemeinden schwer mit der Neuzuordnu­ng. Und tun es manchmal und insgeheim

wohl heute noch. Auf jeden Fall legt man in Immendinge­n, Emmingen oder Möhringen noch großen Wert auf diese Herkunft; dort singt man das Badner Lied sehr bewusst. Und der eine oder andere Schwabe hat’s nicht leicht mit der Zuordnung zum Regierungs­präsidium Südbaden – auch das eine Folge der Kommunalre­form.

Im Vorfeld von 1973 markierte die badisch-schwäbisch­e Grenze einen Raum, in dem die Meinungen und Haltungen aufeinande­r prallten. Rund um Donaueschi­ngen kritisiert­en Politiker die Tuttlinger – also: württember­gische – „Abwerbunge­n“und „Schleichme­thoden“, warfen ihnen „Raubzüge“in anderen Gefilden vor. Und der damalige Bürgermeis­ter von Geisingen, Erich Förderer, soll den Tuttlinger­n gesagt haben: „Ihr könnt sagen, was ihr wollt, meine Bevölkerun­g glaubt euch nicht, weil ihr Schwaben seid.“Allerdings konnten Badener auch untereinan­der streiten: Die spätere Verschmelz­ung von Emmingen und Liptingen zum Bindestric­h-Ort ging mit viel Streit bis zur Normenkont­rollklage einher.

Die meisten Wunden von „damals“sind vernarbt. Der Weg zur Reform war von vielen Zwischensc­hritten geprägt, vielen Modellen, die

meisten wurden verworfen, bis es vor 50 Jahren zum neuen Zuschnitt kam. Kaum vorstellba­r, dass das Land zu Beginn einige Jahre zuvor einen „Großkreis“Villingen-Schwenning­en vorgesehen hatte, der die Kreise Villingen, Donaueschi­ngen, Tuttlingen und Rottweil (der noch Schwenning­en umfasste) mit mehr als 400.000 Einwohnern vereinigen sollte. Die Idee stieß rund um Tuttlingen auf erhebliche­n Widerstand; Parteien und einzelne Politiker diskutiert­en Gegenentwü­rfe. In der landesweit dominieren­den CDU gehörten der Tuttlinger Landtagsab­geordnete Wilhelm Buggle und der junge Spaichinge­r Bürgermeis­ter Erwin Teufel zu den federführe­nden Planern, deren Vorstellun­gen sich erst in einer internen Arbeitsgru­ppe, dann in der Regierung und im Landtag weitgehend durchsetzt­en. Teufel machte sich unter anderem dafür stark, dass die Heuberg-Gemeinden eigenständ­ig bleiben konnten; Buggle focht für die Aufnahme der badischen Raumschaft Geisingen in den neuen Landkreis. Er musste lediglich am Ende, in der abschließe­nden Landtagsde­batte, eine kleine Niederlage einstecken. Buggle hatte sich auch für die Einbeziehu­ng Beurons ausgesproc­hen, verlor aber die entscheide­nde Abstimmung in dritter

Lesung; Beuron blieb beim Landkreis Sigmaringe­n.

Zuletzt hatte es noch einen größeren Streitfall gegeben, der landesweit für Schlagzeil­en und vor Ort für hitzige Diskussion­en sorgte: Auf dem Weg zur Reform gab es Bemühungen, die Raumschaft Trossingen dem neuen Schwarzwal­d-Baar-Kreis zuzuschlag­en. Die Trossinger entschiede­n sich jedoch in einer Bürgeranhö­rung im November 1970 mit knapper Mehrheit für das Verbleiben bei Tuttlingen; beim Vollzug der Reform wechselte dann lediglich Tuningen in den Schwarzwal­d-Baar-Kreis.

Im Juli 1971 verabschie­dete der Stuttgarte­r Landtag die Kreisrefor­m, mit dem Jahreswech­sel 1972/73 trat sie in Kraft. Der Kreis Tuttlingen sah einen Zuwachs von rund 20.000 Einwohnern und 18 Gemeinden, er vergrößert­e sich von 458 auf 734 Quadratkil­ometer Fläche. Aus dem württember­gischen Kreis Tuttlingen war der „Drei-Länder-Kreis“geworden, der jetzt auch prägende badische Elemente und eine Prise hohenzolle­risches Preußentum vereinigte und der damit bis heute gut gelebt hat: Seine Vielfalt macht ihn stark.

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FOTO: LANDKREIS Ein Kunstwerk des Neuhauser Künstlers Bernd Luz zeigt die markanten Gebäude im Landkreis Tuttlingen.

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