Kein „Motzen auf hohem Niveau“
Medizintechnikbranche hofft auf Fristverlängerung in Sachen EU-MDR, doch damit sind nicht alle Probleme gelöst
TUTTLINGEN - Das Papier stapelt sich bei vielen Tuttlinger Medizintechnikfirmen: Wie ein Produkt beschaffen ist, was es genau macht und warum es tut, was es tut – all das muss genauestens dokumentiert sein. So verlangt es die Europäische Medizinprodukteverordnung (EUMDR). Seit 2017 ist sie in Kraft. Inzwischen haben viele Unternehmen in der Region Tuttlingen das Zertifizierungsverfahren bereits durchlaufen. Doch für viele andere wird die Zeit knapp. Eine Verlängerung ist im Gespräch, doch kommt sie auch? Julia Steckeler, Geschäftsführerin der Tuttlinger Clusterinitiative Medical Mountains, im Interview.
Frau Steckeler, wie ist der Stand in Sachen EU-MDR?
Momentan geht die Übergangsfrist bis 2024, bis dahin müssen alle Produkte in die EU-MDR überführt sein. Wir haben ja früh prophezeit, dass das System gar nicht in der Lage ist, diese Masse an Produkten zu bewältigen. Das liegt nicht an den Unternehmen, sondern am Komplettsystem. Es gab zu wenig benannte Stellen (Anm. d. Red.: Unternehmen wie der TÜV, die Produkte überprüfen und zertifizieren). Inzwischen haben wir 36, wir kamen mal von 80. Im Schnitt braucht eine benannte Stelle für die Überprüfung des Qualitätsmanagement-Systems und der Produktakte mindestens ein Jahr, eher eineinhalb Jahre. Da kann man sich leicht ausrechnen, dass das bis 2024 kaum funktionieren kann. Im Oktober waren gerade einmal 1990 MDRZertifikate ausgestellt. Rund 23.000 weitere Zertifikate müssen noch in die MDR überführt werden.
Wobei sicherlich weniger Produkte überhaupt zertifziert werden?
Ja, das stimmt. Viele Unternehmen haben ihre Portfolios bereinigt und Produkte aus dem Sortiment genommen.
Können Sie sagen, wie viele Produkte vom Markt genommen wurden?
Aktuelle konkrete Zahlen haben wir leider nicht. Aber in unserer Studie vom April hat die Hälfte der Unternehmen gesagt, dass sie Produkte gestrichen haben. Bei vielen ist es ein Drittel, bei anderen weniger.
Christian Leibinger, Chef von KLS Martin, hat kürzlich unserer Zeitung gesagt, die EU-MDR hätte auch ein wenig zum Entrümpeln beigetragen. Einige Produkte seien seit Jahren kaum gefragt gewesen. Sehen Sie da auch einen positiven Effekt?
Ja, die Verordnung hat schon auch positive Seiten. Es gibt Stimmen, die sie gern komplett wieder abschaffen würden, das würde ich nicht machen. Es ist gut, sich zu hinterfragen und aufzuräumen. Trotzdem: Medizinprodukte sind genauso vielfältig wie unser Körper. Diese Vielfalt wird jetzt ein Stück weit standardisiert. Es kann jedoch sein, dass ein bestimmter Standard bei Patient x nicht funktioniert.
Haben Sie da ein Beispiel?
Bei vielen chirurgischen Instrumenten oder Klammernahtgeräten werden die Größen gerade standardisiert. Aber jeder Körper ist anders. Da kann schon ein halber Millimeter ausmachen, ob das Instrument für den Patienten nun schonend eingesetzt werden kann oder nicht. Und der Erfolg des Produktes hängt auch immer vom Anwender ab. Die Ärzte sind ihre bestimmten Produkte gewohnt. Wenn eins fehlt, zieht das einen Rattenschwanz nach sich: Die Anwender müssen sich umstellen, neu geschult werden.
Instrumente für die Kinderchirurgie, die vom Markt genommen wurden, waren zuletzt in der Diskussion. Aber sind es wirklich viele Produkte, die jetzt fehlen, oder doch nur einzelne?
Es gibt viele Produkte, für die es eine Alternative gibt. Die mag nicht so gut sein und hat Nachteile für den Patienten, aber die sind nicht ganz so drastisch. Aber in einigen Bereichen sieht es anders aus. Gerade in der Kinder- und Neurochirurgie fehlen wirklich Produkte. Und sie werden auch in anderen Bereichen fehlen, nur das tatsächliche Ausmaß kennen wir noch nicht. Momentan sind die Lager noch gefüllt, das wird in zwei Jahren dramatischer sein. Medizintechnikunternehmen haben eine ethisch-moralische Verantwortung und versuchen, alles am Markt zu halten, was geht. Aber sie sind auch Wirtschaftsunternehmen. Früher war es okay, mit bestimmten Produkten keine Marge zu machen, weil andere das aufgefangen haben. Nun fällt die Marge bei anderen Produkten aber geringer aus, das Portfolio wird generell kleiner und für die Nischenprodukte müssten die Unternehmen jetzt noch draufzahlen – das funktioniert einfach nicht.
Nun ist eine Verlängerung der Übergangsfristen im Gespräch. Der Vorschlag: Bis 2027 sollen die Hochrisiko-Produkte zertifiziert sein, bis 2028 die einfacheren Produkte, die Klassen 1r und 2a.
Ja, die sind Teil von Lösungsvorschlägen für die Probleme bei der Umsetzung der MDR, die auf der Sitzung der Gesundheitsministerien der europäischen Mitgliedsstaaten am 9. Dezember diskutiert worden sind. Das ist schon mal gut. Worauf wir uns verlassen können, ist, dass es mehr Zeit für das System geben wird. Wir wissen nur nicht, wie genau das am Ende ausgestaltet wird. Wir rechnen bereits im Januar mit einem konkreten Vorschlag seitens der Kommission.
Ist das nun eine Erleichterung für Sie oder bräuchte es aus Ihrer Sicht noch mehr Änderungen?
Die Euphorie ist nicht so groß, dass das nun alle Probleme der MDR löst. Es ist aber definitiv eine wichtige Entzerrung für das System, es braucht diese Zeit. Aber sie wird auch mit Bedingungen verknüpft sein. Wir arbeiten momentan daran, dass nur Bedingungen festgelegt werden, die auch von Herstellern erfüllt werden können. Es darf z.B. nicht passieren, dass die Benannten Stellen einen Antrag des Herstellers akzeptiert haben müssen oder einen Vertrag mit diesem abgeschlossen haben müssen. Dann läge die Möglichkeit zur Nutzung der verlängerten Übergangsfrist rein im Ermessen der Benannten Stellen.
Sie beschäftigen sich mit dem Thema seit zehn Jahren. Ist es für Sie nicht frustrierend, immer wieder die gleichen Argumente vorbringen zu müssen?
Ja, sehr frustrierend. Wir reden ständig mit Berlin und Brüssel, liefern konkrete Beispiele, werden auch gefragt. Aber manchmal bin ich schon verärgert. Wir haben Dinge immer wieder prophezeit und gesagt und als Antwort bekommen: Die Industrie motzt auf hohem Niveau. Das ist es aber nicht. Es geht um Patientenund Versorgungssicherheit. Gerade die Familienunternehmen vor Ort haben eine extrem hohe moralische Verantwortung, da war Patientensicherheit schon immer oberstes Ziel.
Hätten Sie rückblickend im gesamten Prozess noch mehr machen können?
Ich denke, wir haben sehr viel gemacht. Wir waren 2021 auch die ersten, die die Auswirkungen der EUMDR bei den Ärzten konkret beschrieben haben. Unser Interview mit dem Kinderkardiologen Nikolaus Haas und dem Kinderchirurgen Oliver Muensterer vom Juni 2021 hat viel Aufmerksamkeit bekommen und die Diskussionen und Dialoge mit der Politik erstmals auf neue Sichtweisen fokussiert. Plötzlich sprachen da jetzt Anwender über die dramatischen Auswirkungen und nicht „nur“die Industrie.
Aber hätten diese Stimmen nicht schon im Gesetzgebungsprozess kommen müssen?
Das war zu früh. Die Ärzte haben einen anderen Job, die retten Leben. Die haben die Auswirkungen damals noch nicht gemerkt. Was uns anbelangt, wir hatten schon ganz zu Beginn des Gesetzgebungsprozesses Positionspapiere und Gespräche, aber wir waren noch zu klein, denke ich, man hat nicht auf uns gehört. Inzwischen hat Medical Mountains einen Namen, wir werden angehört. Und die Politik weiß, dass wir die Firmen vertreten, die kleiner sind und die aber die größte Masse an innovativen Medizintechnikunternehmen ausmachen. Zudem tauschen wir uns eng mit den großen Verbänden aus und sprechen mit einer Stimme.
Denken Sie, es wird sich, abgesehen von den Fristen, noch mehr am Gesetz tun?
Ich sag niemals nein. Vor ein paar Jahren hätten wir nie gedacht, dass es längere Fristen gibt. Und nun sind wir doch wieder dran, dass sich was tut. Also wer weiß! Woran wir momentan arbeiten: Die EU-MDR soll 2027, also nach zehn Jahren, evaluiert werden. Diese Evaluierung muss früher stattfinden. Wir sehen die Auswirkungen: Produkte werden abgekündigt. Es ist kein Anreiz mehr da, Nischenprodukte auf den Markt zu bringen. Unternehmen gehen in die USA oder Asien, bevor sie überhaupt überlegen, ob sie Produkte in Europa auf den Markt bringen. Innovationen finden kaum noch statt. Woran liegt das alles? Da muss man schnell zu Ergebnissen kommen und das Gesetz dann abändern.
Eine Auswirkung ist auch eine Konsolidierung der Medizintechnikfirmen in Tuttlingen und der Region.
Ja, da läuft viel im Hintergrund. Einige haben aufgegeben, andere haben sich zusammengetan, um sich stärker aufzustellen. Trotzdem gibt es noch viele Betriebe, die zehn Mitarbeiter oder weniger haben – um die müssen und wollen wir uns kümmern. Die Anforderungen sind für alle gleich, egal ob 10 oder 300 Leute im Unternehmen sind. Es gibt ja auch Abhängigkeiten, weil viele größere Unternehmen auch auf Produkte von kleineren angewiesen sind. Es gibt da viel mehr Verflechtungen, als wir uns vorstellen können.
Ist der Standort an der Herausforderung gewachsen?
Ja, die Firmen wissen, dass sie zusammenarbeiten müssen, um stärker zu werden. Sie wissen: Unsere Konkurrenten sitzen nicht uns gegenüber, sondern irgendwo anders auf der Welt. Dass man da auch Wissen teilen muss, um stärker zu werden – dieses Verständnis hat sich geändert.