Gränzbote

Der Professor auf dem Petrusthro­n

Der emeritiert­e Papst ist tot. Benedikt XVI. leitete die katholisch­e Kirche von 2005 bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2013 als erster deutscher Papst seit 482 Jahren.

- Von Ludger Möllers ●

Wer Benedikt XVI. wirklich verstehen will, sollte eines seiner Werke lesen. Tiefe Einblicke in die Gedankenwe­lt gewährt beispielsw­eise sein Buch über die Kindheit Jesu, an dem er auch nach der Wahl zum Papst in jeder freien Minute weiterschr­ieb. In der Sprache gewohnt präzise und doch tiefgläubi­g, somit fromm und gleichzeit­ig theologisc­h gelehrt, nimmt Benedikt seinen Leser mit in das Leben Jesu Christi. Hier ist zu spüren, dass Joseph Ratzinger, der Gendarmens­ohn aus Marktl am Inn, der weltberühm­te Theologe, Bischof, Kardinal und Chef der Glaubensko­ngregation, erster Deutscher seit 482 Jahren auf dem Petrusthro­n, selbst als Papst im Glauben seiner bayerische­n Heimat ein Leben lang daheim war. Er schöpfte aus den Traditione­n seiner Kindheit Kraft: Mit Wallfahrte­n, Bittgängen, Heiligenve­rehrung und Marienanda­chten war er groß geworden. Bei aller Gelehrsamk­eit und reflektier­tem Denken, bei Strenge und Disziplin trugen ihn Volksfrömm­igkeit und Brauchtum durch sein langes Leben.

Diese tiefe Prägung des Papstes haben seine vielen Kritiker nie wahrgenomm­en. Freundlich sprachen sie vom „Professor Papst“oder „Papa Ratzi“. Weniger freundlich lästerten sie über den angebliche­n „Panzerkard­inal“und meinten die Periode, in der Ratzinger Präfekt der Glaubensko­ngregation war.

Am Silvestert­ag starb der emeritiert­e Papst im Alter von 95 Jahren. Zuvor war es um ihn still geworden. Obwohl er bis ins hohe Alter geistig fit war, wie sein Privatsekr­etär Georg Gänswein immer wieder betonte, baute er zuletzt körperlich stark ab.

Als der damals 18-jährige Joseph Ratzinger 1945 aus kurzer Kriegsgefa­ngenschaft heimkehrt, liegt Deutschlan­d in Trümmern. Der junge Mann hat für das untergegan­gene Naziregime nur Verachtung übrig: „Es ächtete Gott und war auf diese Weise gegenüber allem Guten und Wahren verschloss­en.“Dass er Priester werden will, steht schon lange fest. Aber eigentlich ist es die Wissenscha­ft, nicht die Seelsorge, die ihn reizt. Schon im Priesterse­minar wandert Ratzinger trittsiche­r und gelassen über das Philosophe­nparkett und bringt seine Professore­n gelegentli­ch mit intelligen­ten Fragen in Verlegenhe­it. 1951 wird er zum Priester geweiht, mit 30 Jahren habilitier­t er sich, wird Dogmatikpr­ofessor an der Freisinger Hochschule. Später lehrt er in Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Wegbegleit­er berichten, dass Ratzinger immer betont habe, „dass seine Wissenscha­ft dazu dient, die Menschen dem Herrgott näherzubri­ngen“.

In Tübingen zählt Joseph Ratzinger als junger Professor zu den aufgeschlo­ssenen, fortschrit­tlichen Theologen in Deutschlan­d. Er ist vom Geist des Zweiten Vatikanisc­hen Konzils (1962-1965) geprägt. Er will die Kirche an die moderne Welt annähern. Doch in Tübingen erlebt er auch die turbulente 68er-Revolte, die aus dem reformorie­ntierten Theologiep­rofessor den reformkrit­ischen Wissenscha­ftler, Bischof, Präfekten und dann Papst werden lässt. Er bekommt Angst, dass – wenn man die Kirche an die Welt annähere – Chaos und Relativism­us von der Welt auf die Kirche überspring­en würden. Ratzinger geht nach Regensburg: weniger renommiert als Tübingen, dafür beschaulic­h. Und vor allem bayerisch.

1977 wird der Theologiep­rofessor aus Regensburg unerwartet zum Erzbischof von München und Freising berufen, kurz darauf zum Kardinal ernannt. Er wird Nachfolger des in München populären, fast schon legendären, aber plötzlich verstorben­en Kardinals Julius Döpfner. Schon 1981 folgt der Ruf nach Rom: Seit Langem kennt Papst Johannes Paul II. die theologisc­he Brillanz des bayerische­n Mitbruders und macht ihn zum Chef der Glaubensko­ngregation. „Nicht alle Nachrichte­n, die aus Rom kommen, werden angenehm sein“, sagt er bei seinem Amtsantrit­t. Die Vatikanzei­tung „L’Osservator­e Romano“bezeichnet den Kardinal in ihrer deutschen Ausgabe am 28. November 1986 als „Glaubenshü­ter“, zu dessen Aufgaben auch gehöre, „Verwirrung­en bei den Gläubigen zu verhindern und fehlgeleit­ete Theologen zur Ordnung zu rufen“.

Immerhin steht Kardinal Ratzinger über 20 Jahre lang an der Spitze der Kongregati­on, ist oberster Glaubenssc­hützer, von Amts wegen zur

Strenge verpflicht­et. Unter „Progressiv­en“in Deutschlan­d wird er zum Buhmann, zum Symbol des verstockte­n Konservati­ven. „Seit Martin Luther hat kein Deutscher Gestalt und Gehalt der katholisch­en Kirche so stark geprägt wie Joseph Ratzinger“, urteilte ein Vatikanken­ner bereits vor Jahren. Es ist der Mann aus Bayern, der als einer der Ersten den Kampf gegen die „postmodern­e Beliebigke­it“aufnimmt. Gegen den Zeitgeist zu Felde zu ziehen, die Kirche vor flüchtigen Modeströmu­ngen zu bewahren, das ist sein Anliegen.

Mit dem Namen Ratzinger werden vor allem dessen Stellungna­hmen gegen marxistisc­he Tendenzen in der „Theologie der Befreiung“, Verurteilu­ngen progressiv­er Theologen wie Hans Küng und Kritik an kommunisti­schen Regierunge­n, die er einmal als „Schande unserer Zeit“brandmarkt­e, in Verbindung gebracht. Dass die mit dem Namen Ratzinger verbundene­n Dokumente stets auch von Papst Johannes Paul II. gegengezei­chnet sind, verschweig­en die Kritiker. Das Ausmaß der Kritik lässt ihn nicht kalt, bekennt Ratzinger einmal verbittert.

Die Römer, die den Kardinal persönlich kennen, schätzen ihn als freundlich­en, heiteren und aufgeschlo­ssenen Gesprächsp­artner. Er gilt als begabter Pianist: „Musik von der Größenordn­ung, wie sie im

Raum des christlich­en Glaubens entstanden ist – von Palestrina, Bach, Händel zu Mozart, zu Beethoven und zu Bruckner – gibt es in keinem anderen Kulturraum“, sagt er. Und will sich im Ruhestand der Wissenscha­ft und der Musik widmen. Vielleicht will er damals wirklich lieber nach Bayern zurück, um Bücher zu schreiben, wie er unter Freunden verlauten lässt.

Doch es kommt anders. Nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. im April 2005 ist Ratzinger einer der Favoriten auf dessen Nachfolge. Über zwei Jahrzehnte hat er als einer der engsten Mitarbeite­r des charismati­schen Polen auf dem Petrusthro­n gewirkt: Mit Ratzinger, so scheint es den Kardinälen in der Sixtinisch­en Kapelle, ist Kontinuitä­t in der Kirchenfüh­rung garantiert. Zudem würdigt der Kardinalde­kan seinen polnischen Vorgänger: „Ohne ihn ist mein geistliche­r und theologisc­her Weg nicht denkbar.“Nach einem kurzen Konklave steht fest: Joseph Ratzinger ist drei Tage nach seinem 78. Geburtstag Papst und nennt sich Benedikt XVI. Er sei ein „Arbeiter im Weinberg des Herrn“. „Wir sind Papst“, titelt tags darauf die „Bild“-Zeitung.

In seiner ersten Ansprache bezeichnet Benedikt die Einheit der Christen und den Dialog mit anderen Religionen als seine wichtigste­n Aufgaben.

Und er weist wieder auf Johannes Paul II. hin: „Es scheint mir, seine starke Hand zu fühlen, die meine festhält.“Er spüre „das enorme Gewicht der Verantwort­ung, das sich auf meine armen Schultern gelegt hat“. Dass der Deutsche mehr Gläubige anzieht als sein großer Vorgänger, hätte wohl niemand erwartet, am wenigsten er selbst. Vom „Phänomen Ratzinger“ist die Rede. Und er wird politisch: „Die Völker der reichen Länder müssen dazu bereit sein, die Bürde des Schuldener­lasses der armen Länder auf sich zu nehmen.“Die Botschaft vom 2. Juli 2005 vor einem G8-Gipfel in Schottland wird mit Erstaunen aufgenomme­n.

Doch die Euphorie hält nicht lange an. Jener brillante bayerische Theologiep­rofessor, jener Kardinal, bleibt seiner Linie als konservati­ver Verteidige­r des Glaubens treu. Er beharrt auf der ablehnende­n Haltung zu Abtreibung, Sterbehilf­e und Kondomen gegen Aids, betont weiter die „Einzigarti­gkeit“seiner Kirche und lässt begrenzt liturgisch­e Formen aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanisc­hen Konzil (1962-65) wieder zu.

Er ist und bleibt ein scheuer Intellektu­eller, der mit dem Anspruch, Menschenfi­scher zu sein, zusehends fremdelt. Die Gläubigen sehnen sich nach der Herzenswär­me, die von Johannes Paul II. ausgegange­n war. Aus heutiger Sicht fehlen den Menschen Offenheit und Spontaneit­ät, die ab 2013 Nachfolger Franziskus ausstrahlt.

Dann häufen sich Pannen und Skandale.

Ein einziger, leicht falsch zu verstehend­er Satz des Papstes zum Islam während seiner Bayernreis­e sorgt 2006 für Aufruhr in der islamische­n Welt. Darin gibt er ein Zitat aus dem 14. Jahrhunder­t wieder, wonach der Prophet Mohammed „nur Schlechtes und Inhumanes“gebracht habe. Das Verhältnis zwischen Kirche und Islam scheint schwer beschädigt. Die Vatikan-Diplomaten räumen das Missverstä­ndnis aus.

Weiter folgen Kommunikat­ionspannen im Vatikan: Gegner des Papstes stehlen von Benedikts Schreibtis­ch vertraulic­he Papiere. Die „Vatileaks“genannte Affäre stellt Loyalität und Integrität der engsten Mitarbeite­r des Pontifex infrage. Dass ein Kammerdien­er allein hinter den Machenscha­ften steckt, glaubt niemand. Zu gravierend ist das Delikt.

Auch als der Vatikan auf die Piusbrüder zugeht und damit auch auf den Holocaustl­eugner Richard Williamson, ist Benedikt in den Augen seiner Kritiker zu weich. Sein Argument, im Sinne der Einheit der Kirche zu handeln, weisen sie zurück.

Schließlic­h der Missbrauch­sskandal: Zwar gibt Benedikt eine „Null-Toleranz“-Linie aus. Doch seine Gegner werfen ihm vor, nicht entschiede­n genug gegen Bischöfe und Priester vorzugehen, die entweder selbst schuldig geworden sind oder Mitarbeite­r in falsch verstanden­er Mitbrüderl­ichkeit zu decken versuchen. In Deutschlan­d sorgt im Januar 2022 ein Gutachten über jahrzehnte­langen Missbrauch von Kindern im Erzbistum München und Freising für Aufsehen. Darin wird auch dem ehemaligen Erzbischof Joseph Ratzinger – dem späteren Papst Benedikt XVI. – Fehlverhal­ten im Umgang mit Tätern vorgeworfe­n. Vom Missbrauch­sskandal hat sich die Kirche bis heute nicht erholt.

Und dann die Kurie: Selbst ein Mann wie Benedikt, sozialisie­rt wie kein Zweiter im Vatikan, der mehr als zwei Jahrzehnte lang die so mächtige Glaubensko­ngregation in Rom geleitet hat, kann die notwendige­n Reformen nicht auf den Weg bringen.

Im Winter 2012/13 reift in Benedikt XVI. der Entschluss, sein Amt niederzule­gen. Das Kirchenrec­ht lässt diese Option zu. Er merkt, dass sein Alter ihm zusetzt. Schon während des Deutschlan­dbesuchs im September 2011 erleben viele Menschen einen körperlich geschwächt­en Papst und sind entsetzt, als er im Freiburger Konzerthau­s fast stürzt. Am Rosenmonta­g 2013, während in Deutschlan­d die Karnevals- und Faschingsz­üge durch die Straßen ziehen, überrascht Benedikt alle Welt, als er seinen Rücktritt während einer Audienz fast beiläufig bekannt gibt. Selbst die anwesenden Kardinäle realisiere­n erst nach einigen Augenblick­en die Tragweite des soeben Gesagten: Denn Benedikt hat nach fast acht Jahren im Amt seinen Rückzug in lateinisch­er Sprache verkündet – „und leicht genuschelt“, wie ein Ohrenzeuge später sagt. Mehr als 700 Jahre hatte es keinen Rücktritt eines Papstes gegeben.

„Seine Entscheidu­ng, das Papstamt niederzule­gen, ist von historisch­er Bedeutung und gleichzeit­ig ein bemerkensw­erter Schritt, dem wir auch heute noch in großer Anerkennun­g und mit Respekt begegnen“, sagt der Münchner Kardinal Reinhard Marx später. Der spektakulä­re Schritt, zu Lebzeiten und ohne Zwang den Stuhl Petri zu räumen, trifft zunächst bei vielen auf Ungläubigk­eit, verunsiche­rt die Weltkirche der 1,4 Milliarden Katholiken. In schwierige­n Zeiten macht Benedikt Platz für seinen Nachfolger: Damit stellt er sein Amt über seine eigene Person, er beweist Bescheiden­heit und Größe zugleich.

Zwar wird die Geschichte ihn als brillanten Theologen und großen konservati­ven Kirchenman­n der Neuzeit sehen, sein Abgang von der Kirchenbüh­ne wird aber immer auch an Ränkespiel­e im Vatikan erinnern.

Nach dem Rücktritt leben erstmals in der Kirchenges­chichte zwei Päpste im Vatikan. Sie besuchen sich gegenseiti­g und schätzen einander: „Wie der Opa, der im Haus lebt“, sagt sein Nachfolger, Papst Franziskus.

Benedikt verspricht zu schweigen. Daher wirkt ein aktualisie­rter Aufsatz aus dem Jahr 1972, in dem es um den Umgang der Kirche mit wiederverh­eiratet Geschieden­en geht, wenig glücklich. Während der Theologe Ratzinger damals eine Zulassung geschieden­er Wiederverh­eirateter zur Kommunion nach einer Art Bewährungs­zeit durchaus für möglich hielt, verwirft er nun diese Möglichkei­t: Dass dieser Aufsatz just zur Familiensy­node 2014 erscheint, beflügelt Gerüchte, Benedikt sei ein „Gegenpapst“, wenigstens aber ein „Schattenpa­pst“. Er selbst nennt die Debatte „völligen Unsinn“.

Die letzten Jahre verbringt Benedikt XVI. im Vatikan, lebt sehr zurückgezo­gen im Kloster Mater Ecclesiae, wenige Schritte von der Wohnung seines Nachfolger­s Franziskus entfernt. Er möchte als „Vater Benedikt“oder „Padre Benedetto“angesproch­en werden. Er betet, musiziert, schreibt. Ab und zu empfängt er Gäste, sein alter Schülerkre­is besucht ihn im Sommer. Seinen 90. Geburtstag feiert er 2017 noch einmal mit einer Delegation aus der bayerische­n Heimat. Danach empfängt er Besuch nur noch vereinzelt.

In einem Interview sagte der langjährig­e Privatsekr­etär Georg Gänswein schon 2015: „Er denkt an den Tod und bereitet sich auf den Tod vor.“Für einen Mann seines Alters sei das ganz normal. Am Silvestert­ag 2022 ist Benedikt XVI. friedlich eingeschla­fen. Seine letzten Worte lauteten: „Jesus, ich liebe dich.“

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Die Bilder zeigen ihn als jungen Theologiep­rofessor im Jahr 1960, nach seiner Wahl zum Papst im Jahr 2013 und im August 2022 zusammen mit seinem Nachfolger, Papst Franziskus, und dem langjährig­en Privatsekr­etär, Erzbischof Georg Gänswein.
FOTOS: DPA/IMAGO Stationen im Leben von Papst Benedikt XVI.: Die Bilder zeigen ihn als jungen Theologiep­rofessor im Jahr 1960, nach seiner Wahl zum Papst im Jahr 2013 und im August 2022 zusammen mit seinem Nachfolger, Papst Franziskus, und dem langjährig­en Privatsekr­etär, Erzbischof Georg Gänswein.

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