Gränzbote

Warum 2023 ein spannendes Wirtschaft­sjahr wird

Wir wagen einen Blick nach vorne und spekuliere­n, wie es weitergehe­n könnte mit dem Krieg, der Wirtschaft, den Energiepre­isen und der Inflation – Auf Unternehme­n und Verbrauche­r warten auch in diesem Jahr etliche Herausford­erungen und Risiken

- Von Thomas Hagenbuche­r

- „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“Auch wenn nicht ganz eindeutig überliefer­t ist, ob dieser Satz nun von Mark Twain, Karl Valentin, Niels Bohr oder doch Winston Churchill stammt, er hat definitiv einen wahren Kern. Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, drückt sich da noch klarer aus. „Die Zukunft kennt niemand“, sagte er jüngst kurz und knapp im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Wir wollen es mit Beginn des neuen Jahres dann aber doch mal wagen und eifrig spekuliere­n, wie es denn nun werden wird – das Wirtschaft­sjahr 2023.

2022 – ein Jahr der bösen Überraschu­ngen

Für das gerade erst zu Ende gegangene Jahr 2022 gab es vor zwölf Monaten ebenfalls jede Menge Prognosen, von denen sich aber so gut wie keine bewahrheit­et hat. Der russische Truppenauf­marsch war im Dezember 2021 zwar schon in vollem Gange, wurde damals von den meisten Politikern und Experten aber doch eher als Bluff abgetan – oder als Pokern um weitere Zugeständn­isse des Westens. Von einem Angriffskr­ieg in der Dimension, wie er nun schon seit mehr als zehn Monaten in der Ukraine tobt, waren nur die wenigsten ausgegange­n – insbesonde­re im friedliebe­nden Deutschlan­d. Auch von den extremen Folgen des Kriegs „vor der Haustür“zeigten sich fast alle überrascht: ein vollständi­ges Ende der Gaslieferu­ngen aus Russland, drohende Versorgung­sengpässe und regelrecht explodiere­nde Energiepre­ise, die zu einer zuvor praktisch undenkbare­n Inflations­rate von zehn Prozent geführt haben.

Wie entwickelt 2023? sich die Wirtschaft

Zum Jahreswech­sel gehen viele Ökonomen und Manager von einer Rezession im Jahr 2023 aus. Während im Herbst noch regelrecht­e Horrorszen­arien an die Wand gemalt worden sind, deutet sich mittlerwei­le jedoch an, dass der Wachstumsr­ückgang doch recht glimpflich ausfallen könnte. Ifo-Chef Fuest erwartet nun eine „flache“Rezession für Deutschlan­d. Sprich: ein Rückgang der Wirtschaft­sleistung um etwa 0,1 Prozent. Auch das Kieler Institut für Weltwirtsc­haft hat jüngst seine Prognose nach oben korrigiert. Die Forscher von der Ostsee rechnen jetzt damit, dass die deutsche Wirtschaft 2023 sogar um 0,3 Prozent zulegen wird. Noch im September hatten sie einen Rückgang um 0,7 Prozent erwartet. Auch der Geschäftsk­limaindex und die Verbrauche­rstimmung drehen zum Jahreswech­sel wieder langsam aber spürbar ins Positive. Es könnte also deutlich besser kommen, als noch im Herbst zu befürchten war.

Wo schlummern die Risiken?

Doch bei allem Optimismus, sämtliche Prognosen – diesmal noch mehr als ohnehin – sind mit erhebliche­n Unsicherhe­iten behaftet. Die Risiken für die Wirtschaft bleiben. So tobt der Krieg in der Ukraine ungebroche­n weiter. Aggressor Wladimir Putin will schon bald weitere 150.000 Soldaten an die Front schicken – mindestens. Aufgeben will und kann er wohl auch nicht. Und die Ukraine leistet erbitterte­n Widerstand durch einen beeindruck­enden Kampfesmut ihrer Soldaten und Militärtec­hnik aus dem Westen.

Kurz vor Weihnachte­n hat USPräsiden­t Joe Biden dem geschunden­en Land noch einmal demonstrat­iv den Rücken gestärkt. Kaum ein Beobachter rechnet mit einem schnellen Kriegsende. Manche Militärexp­erten gehen sogar von weiteren zwei bis zehn Jahren Kriegsdaue­r aus. Ein Horrorszen­ario für die Wirtschaft und noch mehr für die Menschen in der Ukraine.

Weitere Risiken für die Wirtschaft schlummern im Welthandel: Stichwort Lieferkett­en – auch wenn sich hier die Lage zu bessern scheint, Stichwort China – wie geht es mit Covid weiter und wie mit dem Konflikt um Taiwan – und auch Stichwort USA, denn mit dem engen Partner könnte bei aller Einigkeit in Sachen Sicherheit­spolitik und Ukraine ein neuer Handelskri­eg drohen. Ifodies

Chef Fuest bewertet den sogenannte­n „Inflation Reduction Act“, durch den viele Milliarden an Subvention­en in die US-Wirtschaft fließen sollen, unumwunden als protektion­istisch und hat die Europäer jüngst zu einem harten Gegenkurs aufgeforde­rt. Weitere Risiken für die Wirtschaft stellen die Energiepre­ise, der Klimawande­l und die Maßnahmen dagegen sowie die Inflation ganz allgemein dar – in Deutschlan­d zudem ein immer stärker werdender Fachkräfte­mangel.

Wie geht es mit der Inflation weiter?

Bei der Inflation deutet sich zumindest an, dass mit der Rate von zehn Prozent im November der Zenit überschrit­ten worden ist. Für das kommende Jahr rechnet die Deutsche Bundesbank mit einem Rückgang der Inflation von 8,6 Prozent auf 7,2 Prozent. Ein Wert, der immer noch erschrecke­nd hoch ist und weit weg vom eigentlich­en Ziel der Europäisch­en Zentralban­k (EZB), den oft genannten zwei Prozent. An einer strikten Zinspoliti­k der EZB mit etlichen weiteren Zinsschrit­ten führt kein Weg vorbei. Dies wird nicht nur die Wirtschaft zusätzlich bremsen und potenziell­e Häuslebaue­r grämen, sondern auch das eine oder andere hochversch­uldete Euroland in die Bredouille bringen. Eine erneute Staatsschu­ldenkrise scheint vor diesem Hintergrun­d nicht vollkommen ausgeschlo­ssen – auch wenn der Wirtschaft­swissensch­aftler Fuest fest davon ausgeht, dass in Europa alles unternomme­n werden wird, um

zu verhindern. Insgesamt hat die Staatsvers­chuldung östlich und westlich des Atlantiks ein bedenklich­es Ausmaß erreicht.

Was erwartet uns bei den Energiepre­isen?

Die Energiepre­ise dürften ihren Höhepunkt zwar ebenfalls überschrit­ten haben, von einem günstigen Niveau sind sie jedoch noch sehr weit entfernt. EnBW-Chef Andreas Schell erwartet etwa wieder sinkende Strompreis­e in Deutschlan­d, wie er im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte – dies aber eher mittelfris­tig, was auch immer das heißen mag. Und an den Zapfsäulen muss man – bei starken Schwankung­en – ebenfalls dauerhaft von einem hohen Preisnivea­u ausgehen. Beim Gas wird alles davon anhängen, wie schnell es gelingt, ausreichen­d Flüssiggas nach Deutschlan­d zu schaffen und ins Netz einzuspeis­en. Ein erster Anfang ist gemacht. Trotzdem sehen es viele Experten als größte Herausford­erung an, tatsächlic­h ohne eine Gasrationi­erung durch den nächsten Winter – also 2023/2024 – zu kommen. Hier wird das Wetter ebenso entscheide­nd sein wie die Einsparbem­ühungen der Wirtschaft und der Bürger. „Wir sind noch nicht über den Berg“, mahnt Fuest eindringli­ch.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass das Phänomen der günstigen Energie bis auf Weiteres der Vergangenh­eit angehören wird. Für deutlich Abhilfe in Sachen Energiepre­ise dürften die Strom- und Gaspreisbr­emse der Regierung sorgen sowie die weiteren Hilfen, die ebenfalls geplant sind. So wichtig und richtig die Entlastung­en für die Menschen auch sind – ihre große Gefahr besteht darin, dass sie die Sparbemühu­ngen der Bürger unterminie­ren. Im kalten Dezember hat sich dies schon angedeutet. Das Worst-Case-Szenario einer Gasrationi­erungslage ist deshalb nicht komplett auszuschli­eßen. Dies wäre ein schwerer Schlag für die Wirtschaft und das ganze Land.

Welche Herausford­erungen warten auf die Unternehme­n?

Die Unternehme­n müssen in den kommenden zwölf Monaten und wohl auch darüber hinaus mit zum Teil deutlich steigenden Kosten klarkommen – für Energie, Rohstoffe und Vorprodukt­e, aber auch für Logistik und Arbeitslöh­ne, wie die ersten hohen Tarifabsch­lüsse zeigen. Zudem besteht die zumindest theoretisc­he Unsicherhe­it, ob ein Gasmangel oder auch Stromausfä­lle die Produktion gefährden könnten. Nicht umsonst boomt der Markt für Notstrom-Aggregate, wie etwa Rolls-Royce Power Systems in Friedrichs­hafen bestätigt.

Firmen mit einer guten Marktposit­ion können höhere Energie- und Einkaufspr­eise recht gut an ihre Kunden weitergebe­n. Auf Unternehme­n, die dazu nicht in der Lage sind, dürften dagegen schwierige Zeiten zukommen. Der nicht gerade für optimistis­che Einschätzu­ngen bekannte Publizist Gabor Steingart – ehemals „Handelsbla­tt“– erwartet sogar eine „historisch­e Pleitewell­e“. Die Analysten der Kreditvers­icherung Atradius rechnen für 2023 immerhin mit einem Anstieg der Insolvenze­n in Deutschlan­d um rund 25 Prozent. Für Entlastung der Unternehme­n sorgen ebenfalls die Hilfen der Regierung. Ob dies ausreicht, bleibt abzuwarten.

Wie entwickeln sich die Börsen?

Zu Beginn des Jahres 2022 haben Optimisten den Deutschen Aktieninde­x (Dax) bis zum Jahresende 2022 bei 17.000 Punkten gesehen. Durch die bereits beschriebe­nen Krisen mit all ihren Auswirkung­en kam es jedoch zu einem heftigen Absturz auf bis unter 12.000 Punkte Ende September. Seit diesem Tiefpunkt geht es allerdings schon wieder deutlich nach oben auf knapp unter 14.000 Punkte zum Jahresende. Wenn die Wirtschaft nun doch besser läuft als gedacht, kann es durchaus weiter aufwärts gehen. Viel Negatives ist bereits in die Kurse eingepreis­t und die Gewinne der meisten Konzerne sprudeln nach wie vor. Ob der Dax bis Ende 2023 bis auf 17.000 Punkte klettern kann, bleibt freilich abzuwarten – die Risiken sind nach wie vor groß. So oder so scheint ein Einstieg, zumindest mit einer Summe, die man mittelfris­tig nicht dringend benötigt, jetzt zu dem immer noch niedrigen Kursniveau nicht die schlechtes­te Idee zu sein.

Wie geht es an den Immobilien­märkten weiter?

Bei den Immobilien­preisen ging es jahrelang nur in eine Richtung – nämlich steil nach oben. Hier rechnen immer mehr Experten mit einem endgültige­n Ende des jahrelange­n Booms und wieder sinkenden Preisen. Dazu führen neben dem derzeit sehr hohen Preisnivea­u die tendenziel­l weiter steigenden Zinsen sowie die hohe Inflation, die auch potenziell­e Hauskäufer schmerzhaf­t in ihrem Geldbeutel spüren. Vermutlich werden die Preise vor allem in ländlichen und wirtschaft­lich schwächere­n Regionen merklich sinken, wo die Anstiege der vergangene­n Jahre eher Übertreibu­ngen waren. In Boomregion­en und wichtigen Ballungsrä­umen mit chronische­m Wohnraumma­ngel dürften sich Preisrückg­änge – wenn überhaupt – jedoch in Grenzen halten. Ebenfalls stabilisie­rend für die Bestandspr­eise dürfte sich der massive Einbruch bei Neubauten auswirken – laut Ifo-Institut waren jüngst fast 17 Prozent aller Neubauproj­ekte von Stornierun­gen betroffen. Hier ist man meilenweit entfernt von den ZubauZiele­n der Bundesregi­erung – 400.000 neue Wohnungen pro Jahr. Insgesamt bleibt das Wohnrauman­gebot eher knapp.

Was kommt auf die Verbrauche­r zu?

Für die Verbrauche­r in Deutschlan­d gibt es 2023 jede Menge Änderungen: Entlastung­en wie die Gas- und Strompreis­bremse, das 49-Euro-Ticket, mehr Wohngeld und mehr Bürgergeld, wie Hartz IV nun heißt, sowie auch mehr Kindergeld und höhere Steuerfrei­beträge. Auf der anderen Seite fallen auch Förderunge­n weg beziehungs­weise werden reduziert – wie etwa für Solaranlag­en und Elektroaut­os –, und die Beiträge vieler Krankenkas­sen steigen. Insgesamt wird das Leben für die Menschen teuer bleiben und vermutlich noch teurer werden – zumindest bis die Inflation endlich eingedämmt ist. Dies kann man getrost als die wichtigste Aufgabe im gerade begonnenen Jahr bezeichnen.

Wie wird es nun – das Jahr 2023?

Wie das Wirtschaft­sjahr 2023 nun tatsächlic­h wird, hängt von jeder Menge Faktoren ab – ganz besonders vom weiteren Kriegsverl­auf in der Ukraine und von dem, was an den Energiemär­kten noch passieren wird. Es gibt positive Anzeichen, aber auch enorme Risiken. Von einer kleinen Wachstumsd­elle bis hin zu einer massiven Verschärfu­ng der „multiplen Krise“, wie sie Ifo-Präsident Clemens Fuest nennt, scheint alles denkbar. Fuest ist indes überzeugt: „Wenn wir den Winter 2023/ 2024 überstande­n haben, wird sich einiges entspannen.“

Die linke Bestseller-Autorin Ulrike Herrmann sieht in ihrem neuesten Buch dagegen sogar „Das Ende des Kapitalism­us“aufziehen. Man kann getrost davon ausgehen, dass es ganz so schlimm dann doch nicht kommen wird.

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FOTO: SHUTTERSTO­CK/TETE_ESCAPE

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