Warum 2023 ein spannendes Wirtschaftsjahr wird
Wir wagen einen Blick nach vorne und spekulieren, wie es weitergehen könnte mit dem Krieg, der Wirtschaft, den Energiepreisen und der Inflation – Auf Unternehmen und Verbraucher warten auch in diesem Jahr etliche Herausforderungen und Risiken
- „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“Auch wenn nicht ganz eindeutig überliefert ist, ob dieser Satz nun von Mark Twain, Karl Valentin, Niels Bohr oder doch Winston Churchill stammt, er hat definitiv einen wahren Kern. Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, drückt sich da noch klarer aus. „Die Zukunft kennt niemand“, sagte er jüngst kurz und knapp im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Wir wollen es mit Beginn des neuen Jahres dann aber doch mal wagen und eifrig spekulieren, wie es denn nun werden wird – das Wirtschaftsjahr 2023.
2022 – ein Jahr der bösen Überraschungen
Für das gerade erst zu Ende gegangene Jahr 2022 gab es vor zwölf Monaten ebenfalls jede Menge Prognosen, von denen sich aber so gut wie keine bewahrheitet hat. Der russische Truppenaufmarsch war im Dezember 2021 zwar schon in vollem Gange, wurde damals von den meisten Politikern und Experten aber doch eher als Bluff abgetan – oder als Pokern um weitere Zugeständnisse des Westens. Von einem Angriffskrieg in der Dimension, wie er nun schon seit mehr als zehn Monaten in der Ukraine tobt, waren nur die wenigsten ausgegangen – insbesondere im friedliebenden Deutschland. Auch von den extremen Folgen des Kriegs „vor der Haustür“zeigten sich fast alle überrascht: ein vollständiges Ende der Gaslieferungen aus Russland, drohende Versorgungsengpässe und regelrecht explodierende Energiepreise, die zu einer zuvor praktisch undenkbaren Inflationsrate von zehn Prozent geführt haben.
Wie entwickelt 2023? sich die Wirtschaft
Zum Jahreswechsel gehen viele Ökonomen und Manager von einer Rezession im Jahr 2023 aus. Während im Herbst noch regelrechte Horrorszenarien an die Wand gemalt worden sind, deutet sich mittlerweile jedoch an, dass der Wachstumsrückgang doch recht glimpflich ausfallen könnte. Ifo-Chef Fuest erwartet nun eine „flache“Rezession für Deutschland. Sprich: ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um etwa 0,1 Prozent. Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat jüngst seine Prognose nach oben korrigiert. Die Forscher von der Ostsee rechnen jetzt damit, dass die deutsche Wirtschaft 2023 sogar um 0,3 Prozent zulegen wird. Noch im September hatten sie einen Rückgang um 0,7 Prozent erwartet. Auch der Geschäftsklimaindex und die Verbraucherstimmung drehen zum Jahreswechsel wieder langsam aber spürbar ins Positive. Es könnte also deutlich besser kommen, als noch im Herbst zu befürchten war.
Wo schlummern die Risiken?
Doch bei allem Optimismus, sämtliche Prognosen – diesmal noch mehr als ohnehin – sind mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Die Risiken für die Wirtschaft bleiben. So tobt der Krieg in der Ukraine ungebrochen weiter. Aggressor Wladimir Putin will schon bald weitere 150.000 Soldaten an die Front schicken – mindestens. Aufgeben will und kann er wohl auch nicht. Und die Ukraine leistet erbitterten Widerstand durch einen beeindruckenden Kampfesmut ihrer Soldaten und Militärtechnik aus dem Westen.
Kurz vor Weihnachten hat USPräsident Joe Biden dem geschundenen Land noch einmal demonstrativ den Rücken gestärkt. Kaum ein Beobachter rechnet mit einem schnellen Kriegsende. Manche Militärexperten gehen sogar von weiteren zwei bis zehn Jahren Kriegsdauer aus. Ein Horrorszenario für die Wirtschaft und noch mehr für die Menschen in der Ukraine.
Weitere Risiken für die Wirtschaft schlummern im Welthandel: Stichwort Lieferketten – auch wenn sich hier die Lage zu bessern scheint, Stichwort China – wie geht es mit Covid weiter und wie mit dem Konflikt um Taiwan – und auch Stichwort USA, denn mit dem engen Partner könnte bei aller Einigkeit in Sachen Sicherheitspolitik und Ukraine ein neuer Handelskrieg drohen. Ifodies
Chef Fuest bewertet den sogenannten „Inflation Reduction Act“, durch den viele Milliarden an Subventionen in die US-Wirtschaft fließen sollen, unumwunden als protektionistisch und hat die Europäer jüngst zu einem harten Gegenkurs aufgefordert. Weitere Risiken für die Wirtschaft stellen die Energiepreise, der Klimawandel und die Maßnahmen dagegen sowie die Inflation ganz allgemein dar – in Deutschland zudem ein immer stärker werdender Fachkräftemangel.
Wie geht es mit der Inflation weiter?
Bei der Inflation deutet sich zumindest an, dass mit der Rate von zehn Prozent im November der Zenit überschritten worden ist. Für das kommende Jahr rechnet die Deutsche Bundesbank mit einem Rückgang der Inflation von 8,6 Prozent auf 7,2 Prozent. Ein Wert, der immer noch erschreckend hoch ist und weit weg vom eigentlichen Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB), den oft genannten zwei Prozent. An einer strikten Zinspolitik der EZB mit etlichen weiteren Zinsschritten führt kein Weg vorbei. Dies wird nicht nur die Wirtschaft zusätzlich bremsen und potenzielle Häuslebauer grämen, sondern auch das eine oder andere hochverschuldete Euroland in die Bredouille bringen. Eine erneute Staatsschuldenkrise scheint vor diesem Hintergrund nicht vollkommen ausgeschlossen – auch wenn der Wirtschaftswissenschaftler Fuest fest davon ausgeht, dass in Europa alles unternommen werden wird, um
zu verhindern. Insgesamt hat die Staatsverschuldung östlich und westlich des Atlantiks ein bedenkliches Ausmaß erreicht.
Was erwartet uns bei den Energiepreisen?
Die Energiepreise dürften ihren Höhepunkt zwar ebenfalls überschritten haben, von einem günstigen Niveau sind sie jedoch noch sehr weit entfernt. EnBW-Chef Andreas Schell erwartet etwa wieder sinkende Strompreise in Deutschland, wie er im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“sagte – dies aber eher mittelfristig, was auch immer das heißen mag. Und an den Zapfsäulen muss man – bei starken Schwankungen – ebenfalls dauerhaft von einem hohen Preisniveau ausgehen. Beim Gas wird alles davon anhängen, wie schnell es gelingt, ausreichend Flüssiggas nach Deutschland zu schaffen und ins Netz einzuspeisen. Ein erster Anfang ist gemacht. Trotzdem sehen es viele Experten als größte Herausforderung an, tatsächlich ohne eine Gasrationierung durch den nächsten Winter – also 2023/2024 – zu kommen. Hier wird das Wetter ebenso entscheidend sein wie die Einsparbemühungen der Wirtschaft und der Bürger. „Wir sind noch nicht über den Berg“, mahnt Fuest eindringlich.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass das Phänomen der günstigen Energie bis auf Weiteres der Vergangenheit angehören wird. Für deutlich Abhilfe in Sachen Energiepreise dürften die Strom- und Gaspreisbremse der Regierung sorgen sowie die weiteren Hilfen, die ebenfalls geplant sind. So wichtig und richtig die Entlastungen für die Menschen auch sind – ihre große Gefahr besteht darin, dass sie die Sparbemühungen der Bürger unterminieren. Im kalten Dezember hat sich dies schon angedeutet. Das Worst-Case-Szenario einer Gasrationierungslage ist deshalb nicht komplett auszuschließen. Dies wäre ein schwerer Schlag für die Wirtschaft und das ganze Land.
Welche Herausforderungen warten auf die Unternehmen?
Die Unternehmen müssen in den kommenden zwölf Monaten und wohl auch darüber hinaus mit zum Teil deutlich steigenden Kosten klarkommen – für Energie, Rohstoffe und Vorprodukte, aber auch für Logistik und Arbeitslöhne, wie die ersten hohen Tarifabschlüsse zeigen. Zudem besteht die zumindest theoretische Unsicherheit, ob ein Gasmangel oder auch Stromausfälle die Produktion gefährden könnten. Nicht umsonst boomt der Markt für Notstrom-Aggregate, wie etwa Rolls-Royce Power Systems in Friedrichshafen bestätigt.
Firmen mit einer guten Marktposition können höhere Energie- und Einkaufspreise recht gut an ihre Kunden weitergeben. Auf Unternehmen, die dazu nicht in der Lage sind, dürften dagegen schwierige Zeiten zukommen. Der nicht gerade für optimistische Einschätzungen bekannte Publizist Gabor Steingart – ehemals „Handelsblatt“– erwartet sogar eine „historische Pleitewelle“. Die Analysten der Kreditversicherung Atradius rechnen für 2023 immerhin mit einem Anstieg der Insolvenzen in Deutschland um rund 25 Prozent. Für Entlastung der Unternehmen sorgen ebenfalls die Hilfen der Regierung. Ob dies ausreicht, bleibt abzuwarten.
Wie entwickeln sich die Börsen?
Zu Beginn des Jahres 2022 haben Optimisten den Deutschen Aktienindex (Dax) bis zum Jahresende 2022 bei 17.000 Punkten gesehen. Durch die bereits beschriebenen Krisen mit all ihren Auswirkungen kam es jedoch zu einem heftigen Absturz auf bis unter 12.000 Punkte Ende September. Seit diesem Tiefpunkt geht es allerdings schon wieder deutlich nach oben auf knapp unter 14.000 Punkte zum Jahresende. Wenn die Wirtschaft nun doch besser läuft als gedacht, kann es durchaus weiter aufwärts gehen. Viel Negatives ist bereits in die Kurse eingepreist und die Gewinne der meisten Konzerne sprudeln nach wie vor. Ob der Dax bis Ende 2023 bis auf 17.000 Punkte klettern kann, bleibt freilich abzuwarten – die Risiken sind nach wie vor groß. So oder so scheint ein Einstieg, zumindest mit einer Summe, die man mittelfristig nicht dringend benötigt, jetzt zu dem immer noch niedrigen Kursniveau nicht die schlechteste Idee zu sein.
Wie geht es an den Immobilienmärkten weiter?
Bei den Immobilienpreisen ging es jahrelang nur in eine Richtung – nämlich steil nach oben. Hier rechnen immer mehr Experten mit einem endgültigen Ende des jahrelangen Booms und wieder sinkenden Preisen. Dazu führen neben dem derzeit sehr hohen Preisniveau die tendenziell weiter steigenden Zinsen sowie die hohe Inflation, die auch potenzielle Hauskäufer schmerzhaft in ihrem Geldbeutel spüren. Vermutlich werden die Preise vor allem in ländlichen und wirtschaftlich schwächeren Regionen merklich sinken, wo die Anstiege der vergangenen Jahre eher Übertreibungen waren. In Boomregionen und wichtigen Ballungsräumen mit chronischem Wohnraummangel dürften sich Preisrückgänge – wenn überhaupt – jedoch in Grenzen halten. Ebenfalls stabilisierend für die Bestandspreise dürfte sich der massive Einbruch bei Neubauten auswirken – laut Ifo-Institut waren jüngst fast 17 Prozent aller Neubauprojekte von Stornierungen betroffen. Hier ist man meilenweit entfernt von den ZubauZielen der Bundesregierung – 400.000 neue Wohnungen pro Jahr. Insgesamt bleibt das Wohnraumangebot eher knapp.
Was kommt auf die Verbraucher zu?
Für die Verbraucher in Deutschland gibt es 2023 jede Menge Änderungen: Entlastungen wie die Gas- und Strompreisbremse, das 49-Euro-Ticket, mehr Wohngeld und mehr Bürgergeld, wie Hartz IV nun heißt, sowie auch mehr Kindergeld und höhere Steuerfreibeträge. Auf der anderen Seite fallen auch Förderungen weg beziehungsweise werden reduziert – wie etwa für Solaranlagen und Elektroautos –, und die Beiträge vieler Krankenkassen steigen. Insgesamt wird das Leben für die Menschen teuer bleiben und vermutlich noch teurer werden – zumindest bis die Inflation endlich eingedämmt ist. Dies kann man getrost als die wichtigste Aufgabe im gerade begonnenen Jahr bezeichnen.
Wie wird es nun – das Jahr 2023?
Wie das Wirtschaftsjahr 2023 nun tatsächlich wird, hängt von jeder Menge Faktoren ab – ganz besonders vom weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine und von dem, was an den Energiemärkten noch passieren wird. Es gibt positive Anzeichen, aber auch enorme Risiken. Von einer kleinen Wachstumsdelle bis hin zu einer massiven Verschärfung der „multiplen Krise“, wie sie Ifo-Präsident Clemens Fuest nennt, scheint alles denkbar. Fuest ist indes überzeugt: „Wenn wir den Winter 2023/ 2024 überstanden haben, wird sich einiges entspannen.“
Die linke Bestseller-Autorin Ulrike Herrmann sieht in ihrem neuesten Buch dagegen sogar „Das Ende des Kapitalismus“aufziehen. Man kann getrost davon ausgehen, dass es ganz so schlimm dann doch nicht kommen wird.