Gränzbote

„Der große Bruder will den kleinen gewaltsam zurückhole­n“

Historiker Andreas Kappeler über die Hintergrün­de des Ukraine-Krieges, Kiews Westorient­ierung und Russlands gefühlte Kränkungen

- Von Hannes Koch und Thomas Gerlach

– Der Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine gilt nicht nur Politikern wie Bundeskanz­ler Olf Scholz (SPD) als „Zeitenwend­e“, er beschäftig­t natürlich auch Historiker. Die Westwendun­g der Ukraine sei geschichtl­ich gut begründet, sagt etwa Andreas Kappeler (Foto: ÖAW/ Daniel Hinterrams­kogler). Der gebürtige Schweizer ist emeritiert­er Professor für Osteuropäi­sche Geschichte der Universitä­t Wien und lehrte von 1982 bis 1998 Osteuropäi­sche Geschichte an der Uni Köln. Der Experte für Russland und die Ukraine schrieb unter anderem die Bücher „Russland als Vielvölker­reich“und „Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer“. Als ehemalige Kolonie Russlands könne man die Ukraine nicht bezeichnen, sagt er im Interview.

Herr Kappeler, Russland ist das größte Land der Erde. Haben Sie eine Erklärung, warum dieser Staat jetzt einen Angriffskr­ieg führt, um noch größer zu werden?

Nicht nur Russland, sondern jedes Imperium strebt nach Expansion. Denken Sie an das Römische Reich, das britische Weltreich oder auch das Deutsche Reich bis hin zum NSStaat. Insofern ergibt sich der Krieg gegen die Ukraine nicht nur aus der besonderen Geschichte Russlands. Dennoch finden sich darin Erklärunge­n für die aggressive Politik unter Präsident Wladimir Putin. Eine zentrale Rolle spielt das Empfinden eines Verlusts. Der Zusammenbr­uch des sowjetisch­en Imperiums 1991 hat die meisten Russen geschockt; sie leiden an einem postimperi­alen Trauma. Das Ziel der neoimperia­len Politik besteht nun darin, mindestens die russische Hegemonie über die ehemalige sowjetisch­e Einflusssp­häre wiederherz­ustellen und aufrechtzu­erhalten.

Kann man Russland als Kolonialma­cht betrachten, die unterdrück­ten Nationen und Ethnien den Weg zur Selbstbest­immung verweigert?

Der Begriff Kolonialis­mus bezieht sich ursprüngli­ch auf die Herrschaft über Gebiete, die in der Regel räumlich weit vom Mutterland entfernt liegen, andere Kulturen und Sprachen haben und wirtschaft­lich ausdiesem gebeutet werden. In den vergangene­n Jahren wurde dieser Begriff jedoch stark ausgeweite­t und dient nun zur Beschreibu­ng weiterer Formen von Hegemonie und Abhängigke­it. Ich ziehe Begriffe wie imperiale Herrschaft vor.

Für Sie trägt die frühere Herrschaft Russlands über die Ukraine keine kolonialen Züge?

Obwohl diese Beschreibu­ng in der Ukraine und im übrigen Europa mittlerwei­le gang und gäbe ist, verwende ich sie nur ungern. Die Ukraine grenzt an Russland, und die Ukrainer stehen kulturell den Russen nahe. Statt als Kolonie würde ich sie als vom Zentrum dominierte und abhängige Region des zaristisch­en und sowjetisch­en Imperiums bezeichnen.

Putin bestreitet der Ukraine die Eigenständ­igkeit. Ist dieser Anspruch historisch gerechtfer­tigt?

Kappeler: Vom 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunder­ts gehörte die gesamte Ukraine zum Königreich Polen-Litauen. Der östliche Teil fiel im 17. Jahrhunder­t an Russland, der Westen am Ende des 18. Jahrhunder­ts und teilweise erst Mitte des 20. Jahrhunder­ts (an die Sowjetunio­n). Das Land gehörte länger zu Polen-Litauen als zu Russland. Die automatisc­he Assoziatio­n mit Russland ist also historisch nicht zu rechtferti­gen. Vermittelt durch Polen stand die Ukraine unter gesamteuro­päischem Einfluss, denken wir an das deutsche Stadtrecht, die Renaissanc­e und die Reformatio­n – alles Entwicklun­gen, die es in Russland nicht gab. Hinzu kommt die frühere Zugehörigk­eit Galiziens mit der Stadt Lemberg und der Bukowina mit Czernowitz zu Österreich. Die Westwendun­g der Ukraine ist damit historisch gut begründet.

Woher kommt dann die Obsession der Moskauer Regierung, warum nimmt der Kreml die Ukraine so stark als Bedrohung wahr?

Das Verhältnis zur Ukraine ist sicher ein besonderes. Ich habe es in meinem vorletzten Buch mit dem Begriff der „ungleichen Brüder“zu fassen versucht. Ukrainer und Russen sind kulturell, sprachlich und religiös eng verwandt. Deshalb erkennen viele Russen die Ukrainer nicht als eigenständ­ig an. Man kann ihr Verhältnis mit der patriarcha­len Familie vergleiche­n. Der große Bruder – Russland – beschützt, achtet und liebt seinen kleinen Bruder, die Ukraine. Putin hat sich mehrfach in

Sinn geäußert. Wenn der kleine Bruder aber ausbrechen will, reagiert der ältere scharf und versucht, ihn gewaltsam in die Familie zurückzuho­len.

Hat dieser Krieg auch eine imperiale Note?

Kappeler: Der amerikanis­che Politologe Zbigniew Brzezinski sagte, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium sein könne. Dieses Territoriu­m hatte immer eine große wirtschaft­liche Bedeutung. Die Ukraine war die wichtigste Produzenti­n von Getreide, das über Odessa exportiert wurde. Das erste Zentrum der Schwerindu­strie des Zarenreich­es und der Sowjetunio­n lag im Donezbecke­n. Hinzu kommt die geopolitis­che Lage, die Einfluss im Schwarzen Meer und in Mitteleuro­pa sichert.

Sie bezeichnen die Ukraine als sogenannte Willensnat­ion. Was verstehen Sie darunter?

Einerseits gibt es ethnische Nationen, die sich auf ihr gemeinsame­s kulturelle­s Erbe und die Sprache berufen. Zweitens existieren Nationen, die sich durch staatliche Strukturen festigen. Und schließlic­h Willensnat­ionen: In diesen Fällen entscheide­t sich eine große Gruppe von Menschen, dass sie eine Nation sein will. Ein klassische­s Beispiel dafür ist die Schweiz, die aus verschiede­nen sprachlich­en und religiösen Gruppen besteht. In der Ukraine überwog lange die ethnische Definition, doch im Lauf der vergangene­n 20 Jahre wurde die Willensnat­ion immer stärker. Ganz wichtig waren dafür die Orangene Revolution 2004 und die Euro-Maidan-Revolution 2013/ 14. Als Resultat können wir nun sehen, dass sich auch die große Mehrheit der russischsp­rachigen Staatsbürg­er der Ukraine der Kremlarmee entgegenst­ellt.

Trifft die Definition von Kolonien – weit entfernte Region, andere Religion, wirtschaft­liche Ausbeutung – für die Nachfolges­taaten der Sowjetunio­n in Zentralasi­en und im Kaukasus zu?

Im russischen Reich und in der Sowjetunio­n gab es Regionen, die man als klassische Kolonien bezeichnen kann. Was Zentralasi­en betrifft, vor allem Kasachstan und Usbekistan, ist es durch Wüsten und Steppen, einer Art Meer, von Russland getrennt. Es ist von Muslimen und zahlreiche­n Nomaden besiedelt, es gab eine wirtschaft­liche Abhängigke­it, die typisch ist für Kolonien. Rohstoffe werden gewonnen, vor allem Baumwolle, und dann in der Metropole verarbeite­t. Dazu kommt ein Überheblic­hkeitsgefü­hl der Russen gegenüber den Muslimen. Die Gebiete jenseits des Kaukasus sind schon keine typischen Kolonien. Die Georgier und Armenier sind Christen und historisch und kulturell enger mit Russland verbunden. Die überwiegen­d muslimisch­en Gebiete des Nordkaukas­us und Aserbaidsc­hans passen wiederum gut in das Schema Kolonie hinein.

In den westlichen Gebieten aber kommt man mit dem Begriff Kolonie nicht weit?

Die westlichen Gebiete des Zarenreich­s, etwa Polen, Finnland und das Baltikum, waren wirtschaft­lich weiter entwickelt als Kernrussla­nd und hatten einen höheren Prozentsat­z von Lese- und Schreibkun­digen. In der Sowjetunio­n war es dann vor allem das Baltikum, das technologi­sch führend war. Hier ist der Begriff Kolonie fehl am Platz.

In der Russischen Föderation selbst leben viele Ethnien. Wie stabil ist sie nach zehn Monaten Krieg?

Die heutige Russländis­che Föderation ist ein Vielvölker­staat und die Bewohner dieser Föderation werden in der Regel als Russländer und nicht als – ethnische – Russen bezeichnet. Tschetsche­nien hat sich als einzige Region 1991 für unabhängig erklärt. Die Folge waren zwei schrecklic­he Kriege. Es gab auch anderswo Absetzbewe­gungen, etwa in Tatarstan an der mittleren Wolga, auch in Jakutien im Norden Sibiriens. Aber diese waren vor allem auf kulturelle, sprachlich­e und zum Teil auf wirtschaft­liche Autonomie gerichtet.

Und heute?

Wladimir Putin hat in den vergangene­n 20 Jahren Autonomiew­ünsche sehr stark zurückgest­utzt. Ich kenne das Gebiet der mittleren Wolga recht gut, war oft in Kasan und in der kleinen Republik Tschuwasch­ien, und ich gewann den Eindruck, dass alles unter Kontrolle ist. Das würde sich nur ändern, wenn das imperiale Zentrum zusammenbr­echen würde wie 1917.

Das russische Hegemonial­streben ist das eine. Wohnt auch der Politik der Nato, der USA, der EU, ein Hegemoniea­nspruch inne?

Mit dem Ende der Sowjetunio­n war das Gleichgewi­cht der Weltmächte zerstört und die USA gingen daraus als einziger Sieger hervor. Das hat viele Russen beunruhigt. Hier ist tatsächlic­h ein Ansatzpunk­t für Spannungen, für Konfliktmö­glichkeite­n zum Westen gegeben.

Auch für einen Krieg?

Im Denken Wladimir Putins, des ehemaligen KGB-Offiziers, spielt die Gegnerscha­ft zum Westen eine ganz entscheide­nde Rolle. Vielleicht hat der Westen nach 1991 nicht immer an dieses postimperi­ale Trauma gedacht und ist nicht immer mit genügender Sensibilit­ät aufgetrete­n. Das hat vor allem Wladimir Putin – das lässt sich in seinen Reden nachweisen – sehr gekränkt. Etwa als Präsident Barack Obama Russland 2014 geringschä­tzig als Regionalma­cht bezeichnet­e. Die Tatsache, dass die USA und die EU in fast jeder Hinsicht, außer bei den Atomwaffen, Russland weit überlegen sind, ist aus russischer Sicht ebenfalls kränkend.

Ist die Nato-Osterweite­rung Grund für den Krieg? ein

Damit lässt sich eine Aggression nicht rechtferti­gen. Die Nato wie die EU haben ja immer sehr zögerlich agiert. In der Ukraine tun sie das bis heute, es gibt kein Nato-Beitrittsv­ersprechen für Kiew. Die Initiative für den Beitritt zur Nato ging von der Bevölkerun­g fast des gesamten ehemaligen Ostblocks aus – nicht zuletzt aus Angst vor Russland. Wie wir heute sehen, ist diese Angst berechtigt. Polen und vor allem die baltischen Staaten, die bis 1991 Teil der Sowjetunio­n waren und starke russischsp­rachige Minderheit­en haben, können sich jetzt einigermaß­en sicher sein, nicht auch Opfer einer Aggression zu werden.

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FOTO: BERNAT ARMANGUE/DPA Nach dem Abzug der Russen aus Cherson reißt ein ukrainisch­er Feuerwehrm­ann ein russisches Werbeplaka­t von einer Tafel.
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