Zweifel am Ausstieg aus der Kernenergie bleiben
Wirtschaftsexperten und Industrie sprechen sich für längere Laufzeiten aus – SPD und Grüne sehen das Thema als beendet an
- Die Entscheidung ist eigentlich längst gefallen: Am 15. April gehen die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz – gut drei Monate später als ursprünglich vorgesehen, dafür aber endgültig. Auch die Betreiber selbst rechnen nicht damit, dass daran nochmals gerüttelt wird. „Die Entscheidung wurde so getroffen, und sie ist meines Erachtens irreversibel“, sagte jüngst Andreas Schell, Vorstandschef der Energie BadenWürttemberg (EnBW), im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Der Betrieb wird nun noch einmal bis zum 15. April verlängert. Aber das war es dann“, stellte er klar.
Während man sich in den Kraftwerksblöcken Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland also bereits intensiv auf die Abschaltung und den bald beginnenden Rückbau der Anlagen vorbereitet, geht die Debatte um den Atomausstieg weiter. Nicht wenige Experten sehen das endgültige Aus für die Kernenergie in Deutschland als einen Fehler an – insbesondere vor dem Hintergrund der massiven Energiekrise in Europa,
die uns sicher noch längere Zeit beschäftigen wird.
Nun hat sich auch die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier für einen längeren Betrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke ausgesprochen. „Inzwischen wissen wir: Der Winter 2023/2024 wird nicht unbedingt leichter“, sagte die Ökonomin von der US-Universität Berkeley dem „Handelsblatt“. „Deswegen gilt es, alle Möglichkeiten auszuschöpfen,
und da gehören die Atomkraftwerke dazu.“Die Entscheidung müsse nun rasch getroffen werden, damit die Betreiber sich darauf vorbereiten und neue Brennstäbe beschaffen könnten. Den Kurs der Bundesregierung in der Atomfrage kritisierte Malmendier auch aus außenpolitischen Gründen: Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe mit seiner späten Entscheidung, Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 später abzuschalten, zugleich aber weiter Gas aus Russland zu beziehen, „in den USA für Verwirrung gesorgt“.
Kritik am Ausstieg aus der Kernenergie gibt es in der politischen Arena vor allem aus der FDP und von der Opposition. So hatte zum Beispiel Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) Ende Dezember den Atomausstieg wieder generell infrage gestellt. „Der Strombedarf wird mit dem Hochlauf der Elektromobilität rapide steigen“, sagte er der Funke-Mediengruppe. Bei der Stromproduktion dürfe es „keine Tabus geben, auch nicht bei den Atomlaufzeiten“. Die Äußerungen riefen Protest bei den Grünen hervor.
Auch aus der Industrie gibt es vermehrt Stimmen, die vor dem Hintergrund der Energiekrise einen Betrieb über den 15. April hinaus fordern. Industriepräsident Siegfried Russwurm kann sich grundsätzlich längere Laufzeiten der Atomkraftwerke in Deutschland vorstellen. „Wir sehen ja aktuell, wie dringend wir jede Kilowattstunde Strom benötigen, gerade in den sonnen- und windarmen Wintermonaten“, sagte Russwurm der Deutschen Presse-Agentur. „Unseren europäischen Nachbarn ist es schwer zu vermitteln, in der gegebenen Mangellage sichere Kraftwerke abzuschalten und gleichzeitig Solidarität einzufordern.“
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) kritisiert dagegen vehement Rufe nach längeren Laufzeiten und fordert ein Ende der Debatte. „Machen wir uns nichts vor: Wenn wir jetzt neue Brennstäbe kaufen würden, laufen die alten Kernkraftwerke womöglich noch 20 Jahre. Die Risiken sind hoch, wie die massiven Probleme in Frankreich zeigen“, sagte Bas der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Wir sollten es definitiv bei der letzten Verlängerung bis April 2023 belassen, diese Debatte beenden und den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen.“
Dass die Bundesregierung mit ihrem Kurs recht alleine dasteht, zeigt ein Blick auf andere Industriestaaten und Schwellenländer, von denen viele weiter stark auf Kernkraft setzen – in Europa insbesondere Frankreich. Aus Tschechien wurde gestern bekannt, dass das Land 2022 mehr Atomstrom produziert hat als je zuvor. Und in der EU gilt seit Sonntag Atomenergie ganz offiziell als „nachhaltig“. Nichtsdestotrotz scheint in Deutschland die Entscheidung gefallen zu sein – höchstwahrscheinlich.