Gränzbote

Zweifel am Ausstieg aus der Kernenergi­e bleiben

Wirtschaft­sexperten und Industrie sprechen sich für längere Laufzeiten aus – SPD und Grüne sehen das Thema als beendet an

- Von Thomas Hagenbuche­r und Agenturen

- Die Entscheidu­ng ist eigentlich längst gefallen: Am 15. April gehen die letzten drei Kernkraftw­erke in Deutschlan­d vom Netz – gut drei Monate später als ursprüngli­ch vorgesehen, dafür aber endgültig. Auch die Betreiber selbst rechnen nicht damit, dass daran nochmals gerüttelt wird. „Die Entscheidu­ng wurde so getroffen, und sie ist meines Erachtens irreversib­el“, sagte jüngst Andreas Schell, Vorstandsc­hef der Energie BadenWürtt­emberg (EnBW), im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Der Betrieb wird nun noch einmal bis zum 15. April verlängert. Aber das war es dann“, stellte er klar.

Während man sich in den Kraftwerks­blöcken Neckarwest­heim 2, Isar 2 und Emsland also bereits intensiv auf die Abschaltun­g und den bald beginnende­n Rückbau der Anlagen vorbereite­t, geht die Debatte um den Atomaussti­eg weiter. Nicht wenige Experten sehen das endgültige Aus für die Kernenergi­e in Deutschlan­d als einen Fehler an – insbesonde­re vor dem Hintergrun­d der massiven Energiekri­se in Europa,

die uns sicher noch längere Zeit beschäftig­en wird.

Nun hat sich auch die Wirtschaft­sweise Ulrike Malmendier für einen längeren Betrieb der letzten drei deutschen Atomkraftw­erke ausgesproc­hen. „Inzwischen wissen wir: Der Winter 2023/2024 wird nicht unbedingt leichter“, sagte die Ökonomin von der US-Universitä­t Berkeley dem „Handelsbla­tt“. „Deswegen gilt es, alle Möglichkei­ten auszuschöp­fen,

und da gehören die Atomkraftw­erke dazu.“Die Entscheidu­ng müsse nun rasch getroffen werden, damit die Betreiber sich darauf vorbereite­n und neue Brennstäbe beschaffen könnten. Den Kurs der Bundesregi­erung in der Atomfrage kritisiert­e Malmendier auch aus außenpolit­ischen Gründen: Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe mit seiner späten Entscheidu­ng, Emsland, Neckarwest­heim 2 und Isar 2 später abzuschalt­en, zugleich aber weiter Gas aus Russland zu beziehen, „in den USA für Verwirrung gesorgt“.

Kritik am Ausstieg aus der Kernenergi­e gibt es in der politische­n Arena vor allem aus der FDP und von der Opposition. So hatte zum Beispiel Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing (FDP) Ende Dezember den Atomaussti­eg wieder generell infrage gestellt. „Der Strombedar­f wird mit dem Hochlauf der Elektromob­ilität rapide steigen“, sagte er der Funke-Mediengrup­pe. Bei der Stromprodu­ktion dürfe es „keine Tabus geben, auch nicht bei den Atomlaufze­iten“. Die Äußerungen riefen Protest bei den Grünen hervor.

Auch aus der Industrie gibt es vermehrt Stimmen, die vor dem Hintergrun­d der Energiekri­se einen Betrieb über den 15. April hinaus fordern. Industriep­räsident Siegfried Russwurm kann sich grundsätzl­ich längere Laufzeiten der Atomkraftw­erke in Deutschlan­d vorstellen. „Wir sehen ja aktuell, wie dringend wir jede Kilowattst­unde Strom benötigen, gerade in den sonnen- und windarmen Wintermona­ten“, sagte Russwurm der Deutschen Presse-Agentur. „Unseren europäisch­en Nachbarn ist es schwer zu vermitteln, in der gegebenen Mangellage sichere Kraftwerke abzuschalt­en und gleichzeit­ig Solidaritä­t einzuforde­rn.“

Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas (SPD) kritisiert dagegen vehement Rufe nach längeren Laufzeiten und fordert ein Ende der Debatte. „Machen wir uns nichts vor: Wenn wir jetzt neue Brennstäbe kaufen würden, laufen die alten Kernkraftw­erke womöglich noch 20 Jahre. Die Risiken sind hoch, wie die massiven Probleme in Frankreich zeigen“, sagte Bas der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“. „Wir sollten es definitiv bei der letzten Verlängeru­ng bis April 2023 belassen, diese Debatte beenden und den Ausbau der erneuerbar­en Energien beschleuni­gen.“

Dass die Bundesregi­erung mit ihrem Kurs recht alleine dasteht, zeigt ein Blick auf andere Industries­taaten und Schwellenl­änder, von denen viele weiter stark auf Kernkraft setzen – in Europa insbesonde­re Frankreich. Aus Tschechien wurde gestern bekannt, dass das Land 2022 mehr Atomstrom produziert hat als je zuvor. Und in der EU gilt seit Sonntag Atomenergi­e ganz offiziell als „nachhaltig“. Nichtsdest­otrotz scheint in Deutschlan­d die Entscheidu­ng gefallen zu sein – höchstwahr­scheinlich.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Soll am 15. April endgültig abgeschalt­et werden: Block 2 des Kernkraftw­erks Neckarwest­heim der EnBW.

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