„Aufpassen, wenn Menschen Sorgen und Ängste haben“
Spaichingens Bürgermeister Markus Hugger freut sich übers Zusammenwachsen in 2023 und schaut mit Sorgen auf das kommende Jahr
- 2023 ist für den Anfang 2020 neu gewählten Spaichinger Bürgermeister Markus Hugger das erste Jahr gewesen, in dem nicht Distanz im Coronamodus nötig war. Andererseits ist dieses Jahr gleich in die nächste Krise geschlittert. Regina Braungart hat mit ihm über das zurück liegende Jahr und die Herausforderungen der Zukunft gesprochen.
Herr Hugger, was war für Sie im Bezug auf das Leben in der Stadt 2022 das wichtigste?
Ein ganz besonderes Erlebnis war das Stadtfest Primtalsommer. Auch zusammen mit Sallanches und den anderen beiden Gemeinden, mit denen wir die Partnerschaft nächstes Jahr vorantreiben wollen. Und auch die anderen Feste, die gezeigt haben, dass die Menschen aufeinander zugehen, miteinander feiern wollen nach den beiden Coronajahren. Besonders gefreut hat mich beim Primtalsommer, dass alle mitgemacht und mitgefeiert haben. Das hat den Menschen gutgetan und auch Spaichingen in der Außenwirkung.
Wie war für Sie persönlich das erste Jahr nach der Coronakrise?
Eigentlich war 2022 ja auch ein Krisenjahr, wenn auch nicht mit den Einschränkungen der Pandemie. Der Vorteil war, dass Menschen raus konnten, lockerer waren, ihre Freizeit genießen konnten. Das ging mir genauso. Aber dann kam der Schlag mit dem Einmarsch in die Ukraine. Wir als Prinzenpaar hatten überlegt, ob man die Fasnet absagen sollte. Aber ich finde es auch im Nachhinein richtig, es nicht getan zu haben. Wir haben ja unterm Jahr viel getan, indem wir Flüchtlinge aufgenommen haben, tragen die Folgen mit. Aber die Sorgen der Bürger haben sich unterm Jahr immer weiter aufgebaut. Es war ja relativ schnell klar, dass es auch die Kommune wirtschaftlich treffen wird. Auch das war ein Grund, warum die Menschen das Ventil des gemeinsamen Feierns gesucht haben.
Haben Sie auch das Gefühl, dass die bei Ihrem Dienstantritt tief gespaltene Stadt wieder geeint wurde?
Nach meiner Wahrnehmung und was mir widergespiegelt wurde, hat das Stadtfest ganz erheblich zum Zusammenwachsen beigetragen. Man braucht ja nicht immer einer Meinung sein, aber man hat gegenseitiges Vertrauen. Ich glaube, das Zwischenmenschliche, das Wir-Gefühl, das diese Stadt prägt, wurde durch das Fest deutlich und das trägt bis heute. Das wird sicher auch die positive Energie sein für 2023.
Sie persönlich sind ja mit Ihrer Familie näher an Spaichingen gerückt und nach Hausen umgezogen von Immendingen. Wie sehen Sie ganz persönlich Ihr Verhältnis zur Stadt? Sie müssen einerseits ja innerlich an die Stadt gebunden sein, aber auch distanziert, um zu versuchen, allen gerecht zu werden.
Es ist immer der Spagat, den man jeden Tag neu machen muss. Das wichtigste ist, authentisch zu bleiben, so wie man ist. Und man muss sich in der Rolle des Bürgermeisters wohl fühlen, und das tue ich. Ich bin gern für die Menschen da. Ich bin aber auch eine Privatperson mit allen Stärken und Schwächen, die sie hat. Das muss man auch einer Person zugestehen, die im öffentlichen Leben steht. Wer sich verbiegt, der kommt unglaubwürdig rüber und fühlt sich selbst nicht wohl. Und wer sich nicht wohl fühlt, kann auch keine gute Arbeit machen. Ich fühle mich in der Stadt Spaichingen als Bürgermeister und als Privatperson sehr wohl. Auch als Bürgermeister darf man mit den Menschen feiern und ausgelassen und fröhlich sein. Das gehört auch dazu. In Hausen ob Verena zu wohnen heißt einerseits, in vier Minuten vor Ort zu sein, und andererseits doch auch ein bisschen räumliche Distanz zu haben, die auch der Familie guttut. So fühle ich mich sehr sehr wohl.
Ihre Familie auch?
Ja, die Familie auch. Anfangs stand schon ein Fragezeichen wegen des Schulwechsels für die Kinder, was einschneidend ist. Aber es sind alle angekommen und für meine Frau ist es jetzt zu ihrer Arbeitsstelle in Rottweil deutlich näher. Der Umzug ist jetzt mehr oder weniger abgeschlossen. Aber natürlich war durch den Umzug das Jahr 2022 auch belastend.
Zurück zum Bürgermeister und seinen Herzensprojekten: Wo verorten Sie sich da, oder ist eine kleine Zwischenbilanz hier noch zu früh?
Stadtentwicklung ist ein nie enden wollender Weg. Und die Stadt ist – wie auch in ihrer Geschichte – auf einem hervorragenden Weg. Wir haben im Bereich Kinderbetreuung durch den neuen Kindergarten einiges erreicht, wir haben Dinge, die schon im Fluss waren – Sanierung, Primverdolung und Lehrschwimmbecken – beendet. Und neue Projekte angestoßen wie den Kindergarten, den Glasfaserausbau ... Ich bin froh, dass das schwierige Thema Hotelbau und Bürgergarten so weit ist. Dann das Gebiet Hochsteig-Tal, wo wir versuchen, gerade energetisch Maßstäbe zu setzen. Ein ganz wesentlicher Punkt wird weiterhin die Kinderbetreuung und das Gesundheitszentrum sein. Hier gibt es Höhen und Tiefen. Wir werden in das Investorenverfahren eintreten und versuchen, gemeinsam mit dem Kreistag einen Investor zu finden, und hoffen, dass wir trotz der zunehmend schlechteren Rahmenbedingungen in die Umsetzung kommen.
Sie meinen das Investorenverfahren für den Neubau, also das Ärztehaus mit ambulantem OP-Zentrum?
Für das ganze Gesundheitszentrum mit Betteneinheit. Letztlich geht es darum, alle Bausteine, auch das Pflegehotel, umzusetzen, damit es dann auch die Synergieeffekte gibt, die wir wollen. Dann wird es sicherlich eine bemerkenswerte Geschichte. Das ist sicher eines der Schwerpunktthemen zusammen mit dem Landkreis. Aber die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Kreis und Stadt wird immer schwieriger. Und wir hatten fürs Herzstück im Frühjahr den Magenschlag wegstecken müssen, als es hieß, die Pläne für den Umbau sind viel zu teuer.
Das heißt, es hängt noch am Investor? Ich hatte aber immer verstanden, dass dieser schon existiert?
Interessenten gibt es schon. Aber
das Ganze muss ja mit Kriterien versehen werden. Man setzt sich bei einem solchen Projekt ja nicht einfach an den Stammtisch und sagt: Karle, du machst das. Aber wohlgemerkt: Der Kreis ist der Eigentümer des Areals, auch wenn manche Spaichinger ein anderes Gefühl haben. Spaichingen ist zuständig für die Rahmenbedingungen im Bebauungsplan.
Zurück zur Stadt. Nach meiner Wahrnehmung haben Sie und die Verwaltung im Gemeinderat durchgängig Vertrauen zurück gewonnen im Gegensatz zu den früheren Jahren vor Ihrer Amtszeit. Ihnen merkt man an, dass Sie den Gestaltungswillen haben, die Stadt durch Freundlichkeit, Bewahrung von Bausubstanz, mehr Grün, Begegnungen auf Augenhöhe weiter zu entwickeln. Und trotzdem haben Sie einen Gemeinderat, der seine eigenen Vorstellungen hat. Wie gehen Sie damit um?
Ich zitiere da Sie: Das muss Demokratie aushalten. Bei unterschiedlichen Fraktionen und politischen Richtungen muss man die unterschiedlichen Positionen ausdiskutieren. Natürlich werbe ich als Bürgermeister mit Gestaltungswillen für meine Positionen. Und natürlich – schwäbisch formuliert – stinkt es einem auch mal, wenn es nicht so läuft, wie man das gern hätte. Der Gemeinderat bildet die Stadtgesellschaft ein Stück weit ab – zumindest ist das die Idee –, und die Mehrheit entscheidet. Es gibt Themen, die das Gremium spalten wie Lärmaktionsplan und Tempo 30. Da kann es sein, dass man — auch wenn man befreundet ist – unterschiedlicher Auffassung ist und streitet. Das ist halt so. Es ist aber schon so, dass wenn man gute Argumente hat, es auch eine vernünftige Lösung gibt. Da sind wir besser als unser Ruf.
Glauben Sie, dass der Ruf der Kommunalpolitik immer noch so ist wie vorher?
Nein. Wir haben auch im Umland eine deutlich positive Wahrnehmung. Manche beschweren sich schon, dass man nichts mehr lesen würde in der Richtung. Da kann ich nur sagen, es gibt Punkte, da lege ich keinen gesteigerten Wert darauf, dass wir die führende Rolle übernehmen. Man blockiert sich damit nur.
Wie nehmen Sie die Stimmung im Rathaus wahr? Und was ist für Sie als Chef ganz besonders wichtig?
Meistens ist es ja so, dass der Chef etwas als letzter erfährt (lacht). Ich empfinde die Stimmung als angenehm, als freundliches, gutes Miteinander. Die Mitarbeiter sind als Mannschaft zusammengewachsen und ich habe zu meinen Führungsmitarbeitern ein vollumfängliches Vertrauen. Wir diskutieren die Dinge durch, auch kontrovers, und ich erwarte auch, dass man seine Meinung vertritt. Auch wenn ich letztlich als Vorgesetzter dann entscheiden muss. Wo gearbeitet wird, gibt
es auch Fehler, das muss man einem auch zugestehen. Aber insgesamt sind wir sind eine ganz gute Mannschaft, auf die der Gemeinderat und auch die Stadt durchaus stolz sein dürfen.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie frei und aus der Aufarbeitungsphase der Zeit Ihres Vorgängers raus sind?
Noch nicht ganz, es gibt noch einzelne Punkte, die überprüft werden müssen. Ich war einer derer, die die Prozesse gerne abgekürzt hätten, weil sie auch bremsen. Andererseits ist das Bedürfnis in der Stadt dagewesen, und so kann man rückblickend schon sagen, dass es richtig war, das alles aufzuarbeiten. Auch damit viele ihren Frieden finden können. Ich hoffe, dass wir es 2023 dann abschließen können. Jetzt sind wir aber langsam an dem Punkt, nach vorn zu blicken. Es warten Herausforderungen und wir haben Megathemen. Ukraine, Klima, Rohstoffe zum Beispiel.
Ich fürchte, wir werden nie mehr aus dem Krisenmodus herauskommen und Krisen – menschengemachte – werden zum Normalzustand. Was wollen Sie unter diesen Rahmenbedingungen besonders beherzt angehen 2023?
Was sind die Möglichkeiten einer Stadt als kleine Einheit in diesen globalen Krisenthemen? Für Spaichingen heißt es zum Beispiel, dass wir über viele Jahre mit Gas einen relativ preisgünstigen Energieträger gehabt und davon profitiert haben und davon auch abhängig sind. Das stellt auch die heimische Industrie vor große Herausforderungen. Wir müssen aufpassen, dass wir den Druck von unseren Unternehmen wegnehmen.
Aber ich persönlich sehe, dass die Gewerbesteuer – und damit die Gewinne – trotz ständiger Krisen immer weiter steigt?
Wir hatten wirtschaftlich in den vergangenen zehn Jahren einen immensen Aufschwung, auch durch die Geldmarktpolitik. Und jetzt ändert sich das. Das Ergebnis ist noch nicht final angekommen. Wir können momentan nur verfolgen, was Wirtschaftsweise, Rahmenbedingungen und Gutachten sagen und hoffen, dass die Prognosen nicht ganz so schlimm werden. Aber es ist für mich nachvollziehbar, dass ein Unternehmen wie VHW, das einen hohen Energiebedarf hat, künftig Schwierigkeiten befürchtet. Das Schlimme sei die mangelnde Kalkulierbarkeit, auch bezüglich der Kunden, sagen die Unternehmen. Auf der anderen Seite zwingt uns der Ukrainekrieg stärker auf den Weg in die Unabhängigkeit. Da wünsche ich mir eine gewisse Technologieoffenheit. Es geht um Themen wie Windenergie, Photovoltaik, Erdwärme, Pflanzen.
Aber Herr Hugger, diese Diskussionen sind 20 bis 30 Jahre alt und
immer hieß es, man solle energieoffen sein. Dabei war das offenbar nur eine Strategie zu bremsen. Diese Jahre sind vollkommen verpufft. Ich kann mich an ein Vorhaben erinnern, das der Abgeordnete Franz Schuhmacher vor Jahrzehnten mit Fördermitteln angestoßen hat für ein Versuchsprojekt hier in Spaichingen zur Verwendung von Wasserstoff.
Das hatte ich auch versucht in Immendingen, Wasserstoff mit Windkraft zu erzeugen.
Und Sie sprechen jetzt im Grunde so, wie man vor 20, 30 Jahren gesprochen hat. Was ist in der Zeit denn passiert?
Nichts, sonst wären wir jetzt nicht da, wo wir stehen. Aber der Krieg zwingt uns dazu. Es gab viel Lobbyismus, und der Wille war nicht wirklich da, vor allem von Seiten der Wirtschaft nach dem Motto, es hebt ja noch. Und jetzt hebt es halt nicht mehr. Das bestärkt mich in der These, dass es nur über Geld und nicht über reine Überzeugung geht. Schon gar nicht weltweit. Seit Jahrzehnten wird gepredigt, der Urwald soll nicht abgeholzt werden und man macht es trotzdem. Auch wir kriegen es nicht hin. Aber wir müssen den Energiewandel auch technologisch hinkriegen. Es bringt ja nichts, wenn wir Stromausfälle bekommen, weil die Netze überlastet sind. Und das ist ein Prozess, der über Jahre gehen wird, auch in einer Stadt wie Spaichingen. Ich habe kein Problem damit, jedes Dach mit PV auszustatten, aber man muss den Strom auch runter kriegen und so weiter.
Ein zentraler Punkt wird da der neue Energiemanager sein, oder?
Der ja im Gemeinderat sehr kontrovers diskutiert worden ist, den wir aber brauchen werden. Wir werden uns auch anderen Diskussionen stellen müssen, zum Beispiel, ob wir eine Energiegenossenschaft gründen oder ähnliches. Wir haben ja keine Stadtwerke und auch nicht die Infrastruktur. Darüber müssen wir nachdenken. Das halte ich für fast wichtiger als die lang diskutierte Wohnbaugesellschaft. Bis 2040 soll Spaichingen CO2-neutral sein. Das ist ein Ziel, aber das muss man auch hinkriegen.
Für die städtischen Projekte wäre es ja relativ einfach: Man macht einfach neben dem Kriterium, wie etwas finanziell über den Haushalt gedeckt ist, ein weiteres auf: Wie ist die CO2-Bilanz?
Auch das werden Themen sein, die zunehmend wichtig werden.
Anderes Thema: Reichsbürger. Auch bei uns waren solche Tendenzen zu spüren. Haben Sie Sorgen um den Zustand der Demokratie in der Stadt?
Wenn man die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik ansieht, dann glaube ich nicht, dass die sogenannten Reichsbürger das Potenzial haben, die Bundesrepublik mit ihrer
Staatsform und Demokratie ins Wanken zu bringen. Was ich aber unabhängig davon sehe ist, wie sich die Gesellschaft insgesamt entwickelt. Das hat mit Inflation, Preissteigerung, Energieknappheit, sozialem Frieden zu tun. Wir müssen aufpassen, dass die Vielfalt dieser Krise die Demokratie nicht aushöhlt. Zum Beispiel muss Arbeit belohnt werden, da muss eine gewisse Gerechtigkeit reinkommen. Da sind wir auf einem schwierigen Weg, der uns viel Verständnis abfordert. Man muss wirklich aufpassen, wenn Menschen Sorgen und Ängste haben. Und die haben sie gerade. Es bilden sich Meinungen, man sucht Schuldige, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Da ist sehr viel Aufklärung erforderlich. Und man muss die Sorgen und Ängste ernst nehmen. Sonst entstehen immer radikalere Prozesse.
Gerade in Spaichingen hat man jüngst im Gemeinderat die Gewerbesteuer nicht erhöht. Das Verteilungsproblem zeigt sich ja nicht in den unteren Bereichen, also zwischen unteren Einkommen und Grundsicherung, sondern laut Bundesbank und anderer Institute besitzen die oberen zehn Prozent über 50 Prozent des Nettovermögens der Haushalte in Deutschland, die untere Hälfte nur 0,6 Prozent. Damit ist Deutschland im Euro-Raum das Land mit der stärksten Ungleichheit. Und da spricht keiner darüber.
Jeder Unternehmer, der tätig ist, macht es ja nicht für die freie Wohlfahrt. Er trägt das Risiko, bietet Menschen Arbeit und zahlt Lohn und Gehälter aus. Wir befinden uns in dem Kreislauf steigender Preise und dann höherer Lohnforderungen, und schon sind wir in diesem Kreislauf drin. Die Frage ist dann: Inwieweit heizen wir das als Kommune weiter an?
Haben Sie schon mal Hassmails bekommen?
Das eine oder andere, aber es hält sich in Grenzen.
Blick zurück auf den 1.1. 2022: Würden Sie heute etwas anders machen, als Sie dann gemacht haben?
Eigentlich nicht. Vielleicht im einen oder anderen Fall etwas mehr Gelassenheit. Es gibt natürlich die Reflektion, was gewesen wäre, wenn man die eine oder andere Information früher gehabt hätte, oder dies und jenes anders ausgestaltet hätte, aber im Großen und Ganzen war nichts dabei, das man rückgängig machen sollte.
Wenn Sie sich zum 1.1. 2023 etwas wünschen würden, was wäre das?
Dass die Stadt weiter als Einheit zusammen wächst, und vor allem, dass es uns gelingt, den sozialen Frieden zu erhalten.
Und für Sie persönlich?
Tatsächlich Gesundheit und dass das familiäre Miteinander gut läuft.