No-Go oder Notwehr?
Kaum mehr ein Restaurant, das komplett auf Fertig- oder Halbfertigprodukte verzichtet: Der Personalmangel zwinge die Gastronomen, immer mehr Convenience-Ware auf den Teller zu legen. Aber es geht auch anders.
- Der Drei-Kilo-Eimer mit Soßenpulver einer bekannten Marke sieht beeindruckend aus, wie er da so auf der Edelstahlkonsole in der Restaurantküche steht. Sauber eingereiht zwischen die 10,2-LiterDose Rotkohl und der Sauce hollandaise in Ein-Liter-Tetrapacks. Es riecht leicht nach Putzmittel. Die Theken sind blitzsauber, auch vom grau gekachelten Boden könnte man ohne Weiteres essen. Zwei Schritte weiter ist das kleine Kühlhaus, in dem Obst und Gemüse akkurat eingeschichtet sind. Gleich nebenan hat’s Maultaschen und Spätzle in Großpackungen. Außerdem gibt es einen Fleischkühlschrank. Und eine Tiefkühltruhe, in der Kartons mit fertig panierten Schweineschnitzeln auf die Bestellung warten. In unmittelbarer Nachbarschaft ruht weitere Tiefkühlware: Apfelküchle, einzeln entnehmbar. Kartoffelknödel fix und fertig. Die Küche des Gasthofs der Region mutet wie ein Baukasten an, mit dem der Chef die Mahlzeiten zusammensetzt, die der Gast dann als Wirtshausküche bestellt. „Wir lügen niemanden an. Wenn jemand fragt, dann sagen wir, was wir selber machen und was nicht“, sagt der gelernte Koch und Pächter mit einem leicht trotzigen Unterton. Außerdem verweist der Gastronom auf die glänzenden Bewertungen im Internet, die ihm Gäste regelmäßig hinterlassen. Wie die Wirtschaft heißt? Das darf nicht in der Zeitung stehen. Wie der Chef heißt? Auch nicht. Andernfalls wäre es erst gar nicht zu einem Gespräch gekommen.
Das Verwunderliche an der Geheimniskrämerei: Fertig- und Halbfertigprodukte in der Gastronomie sind längst nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die Regel. Damit nicht offen umzugehen, wirkt umso merkwürdiger, wenn man Max Haller zuhört, dem Chef des Dehoga (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) der Kreisstelle Ravensburg, wenn er sagt: „Ich denke, dass in 90
Prozent der Betriebe nicht mehr komplett alles selbst hergestellt wird.“Damit sind Convenience-Produkte wie der sprichwörtliche rosa Elefant im Gastraum. Jeder weiß, dass er da ist, in fast jeder Suppe oder Soße kann man ihn deutlich rausschmecken. Aber man tut lieber so, als könne man ihn nicht wahrnehmen. Aber warum?
„Ich würde ja wirklich gerne von der Salatsoße bis zur Nudel alles selber machen, aber es gibt einfach die Leute nicht mehr. Sie kriegen kein Personal“, sagt ein weiterer Gastronom am Telefon, der ebenfalls nur unter dem Vorbehalt der Anonymität spricht. Viele Prozesse in der Küche, die zeitintensiv und teuer seien, habe er ausgelagert, indem er die entsprechenden Produkte zukaufe. Zum Beispiel Grundsoßen, für die viel Fleisch und Gemüse sowie Rotwein nötig sind und die über viele Stunden ziehen müssen. Oder Maultaschen, deren Produktion – vom Nudelteig bis zur Fülle – jede Menge Arbeitsschritte erfordern. „Wenn Sie, so wie ich, mehr oder weniger alleine in der Küche stehen, dann packen Sie das einfach nicht.“
Horst Schmidt vom Landgasthof Kreuz in Bad Waldsee hat für sich einen anderen Weg gefunden. Er sagt: „Wir machen auch Convenience, aber anders.“Convenience heißt in der Übersetzung nichts anderes als Bequemlichkeit, was bedeutet, sich die Arbeit in der Küche zu erleichtern. Das tut auch Horst Schmidt, allerdings nicht durch nennenswerte Zukäufe von Fertig- oder Halbfertigprodukten. Schmidt erleichtert sich das Leben dadurch, indem er vorproduziert und die eigenen Speisen dann parat hat, wenn der Gastraum voll ist und die Bestellungen hereinflattern. „Wir produzieren zum Beispiel die Spätzle vor und vakuumieren sie“, erklärt Schmidt. Ähnliches gelte für die Maultaschen oder Brühen. Er nennt das Inhouse-Convenience. Also Gerichte oder ihre Bestandteile in der eigenen Küche selbst produziert auf Abruf vorhalten. Darüber hinaus findet der Gastronom den Leitsatz nicht verkehrt, dass man das, was man selber nicht besser machen kann, im Zweifel zukauft. „Fischstäble oder Speiseeis selber machen, muss jetzt nicht unbedingt sein“, findet Schmidt. Andererseits bloß Tüte aufreißen und hinstellen, was andere in einer Fabrik produziert haben? „Finde ich schon komisch.“
Für Uli Schmalz vom Gasthof Engel in Ravensburg gibt es nachvollziehbare Argumente, die für oder auch gegen gekaufte Produkte sprechen. Aber die Frage, weshalb ein Gast in ein Restaurant gehen sollte, um dort Fertigprodukte zu bekommen, die er daheim auch haben kann, sei nicht ganz zu Ende gedacht, denn: „Schließlich verkaufen wir in der Gastronomie nicht nur Produkte, sondern eben viel mehr, wir verkaufen doch in erster Linie Dienstleistung und die hört nun mal beim Zubereiten von Speisen nicht auf.“Außerdem verweist Schmalz in diesem Zusammenhang auf die Qualität der Ausbildung von Köchinnen und Köchen, in der der Gastronom einen Grund für vermehrt zugekaufte Convenience-Produkte vermutet.
Franz Christberger vom Gasthaus Lamm in Wangen im Allgäu zeigt grundsätzlich Verständnis für den Einsatz fertiger Produkte aus Kosten und Zeitgründen, verursacht durch die allgemeine Personalnot. Allerdings: „Meine Frau und ich stehen selber in der Küche und machen lieber weniger, aber dafür frisch.“Für die Zubereitung von Kutteln oder sauren
Linsen stelle er die Einbrenne nach wie vor selber her. „Da steht man schon fast eine Stunde zum Rühren. Aber die Qualität kann kein Fertigprodukt erlangen, das zudem noch voller Konservierungsmittel steckt, was wiederum viele Menschen auf Dauer krank macht“, erklärt Christberger.
Unabhängig voneinander sagen fast alle Gastronomen, die in dieser Geschichte vorkommen, dass viele Menschen den Unterschied zwischen handgemachter Küche und Fertigprodukten oft gar nicht mehr schmeckten. Weil sie zu Hause meist selbst auf solche Lebensmittel zurückgriffen und dadurch von vornherein daran gewöhnt seien. Von einem Beispiel kann Horst Schmidt berichten: „Wir hatten mal die Beschwerde von Gästen, dass ihnen die Spätzle nicht gelb genug sind.“In seiner Küche würden die Spätzle mit hohem Eianteil hergestellt. Aber so richtig goldgelb seien die selten. „Das hängt einfach auch von der Jahreszeit ab. Die Hühner legen die Eier nicht immer gleich.“Spätzle aus der Industrie sähen dagegen immer identisch aus, weil dort auch mit Farbstoffen nachgeholfen werde.
Lebensmittelindustrie und Großhandel, über den viele Gastronomiebetriebe ihre Zutaten beziehen, profitieren vom Trend einer Küche, die mit immer weniger Personal auskommen muss. In der Region ist der Konzern Metro mit verschiedenen Großhandelsstandorten vertreten. Das Unternehmen hat bereits vor der Corona-Pandemie eine exklusive
Convenience-Produktlinie eingeführt, die nichts weniger als das verspricht: Gerichte, die nach allen Regeln der handwerklichen Kochkunst produziert werden und von den Kreationen echter Küchenprofis nicht mehr zu unterscheiden seien. Hergestellt im großen Stil. Auf der Hotellerie- und Gastronomiemesse Intergastra in Stuttgart konnte man sich am riesigen Metro-Stand davon überzeugen, dass der Konzern bei diesen Versprechungen den Mund nicht zu voll nimmt. Von der Grundsoße über das vorgebackene Premium-Schnitzel: Der Gaumen hat nicht’s zu meckern und bei einer Blindverkostung wäre der Unterschied wohl kaum mehr wahrnehmbar. Für Uli Schmalz gut nachvollziehbar, denn er sagt – durchaus mit ironischem Unterton: „Die Produkte werden immer besser und manchmal ist es vielleicht auch der richtige Weg. Getreu dem Motto ,Besser gut gekauft, als schlecht selber gemacht’.“
Max Haller vom Dehoga sagt zur Qualität von guten Fertigkomponenten: „Wenn man Soßen bei jemandem zukauft, der nichts anderes als Soßen macht, muss die ja nicht zwangsläufig schlechter sein als eine selbst gemachte.“Auch da komme es darauf an, was man draus macht. „Wichtig ist doch, dass Sie bei der Verarbeitung von so einem Grundprodukt eine persönliche Note dazugeben. Das unterscheidet Sie dann wieder vom Kollegen.“Dadurch sieht Haller, der selbst eine Eventgastronomie auf der Waldburg bei Ravensburg betreibt, kaum die Gefahr, dass es aufgrund von Convenience-Produkten überall gleich schmeckt. „Überhaupt ist Gastronomie doch viel mehr als nur Essen und Trinken“, sagt Haller. Es gehe um den ganzen Rahmen, der einem im Restaurant oder Wirtshaus geboten werde. „Freundliches Personal, das sich kümmert. Eine gute Stimmung, der besondere Moment im tollen Ambiente.“Ein Gasthaus nur auf die Frage zu reduzieren, wie viel oder wie wenig in der Küche noch selbst gekocht werde, werde den Gastgebern und ihren Leistungen bei Weitem nicht gerecht.
Wie sich das Geschäft mit der Convenience-Ware für den Großhandel in den vergangenen Jahren entwickelt hat und ob Corona dem Absatz einen zusätzlichen Schub verliehen hat – dazu schweigt Metro sich aus. Entsprechende Anfragen blieben unbeantwortet. Der Spaziergang durch einen solchen Markt, konkret im Metro-Gastro in Ravensburg, zeigt aber, dass der Sektor von enormer Bedeutung ist. Die Tiefkühlabteilung mit vorproduzierter Ware hat beträchtliche Ausmaße. Auch die vielen Schänke mit gekühlten Maultaschen, Spätzle und Co. lassen erahnen, dass sich das Geschäft mit der Convenience-Ware lohnt. In den Regalen mit den Großpackungen von Soßenpulvern, gigantischen Rotkohlbüchsen und Liter-Tetrapacks schließt sich der Kreis der Recherchen. Denn im Großmarkt stehen all die Dinge, die der anonyme Gastronom in seiner peinlich sauberen Küche teilweise auch stehen hat. Und offenbar haben viele Gäste damit auch kein Problem – denn tatsächlich wird das Essen, das zum Großteil auf Fertigprodukten beruht, teils frenetisch in den Bewertungen bei Google gelobt. Ob diese Urteile im Bewusstsein gefällt werden, dass das Essen großteils gar nicht dort entstanden ist, wo es verzehrt wurde, bleibt unklar. Das ist aus Sicht des Gastwirts aber auch nicht von Belang. Denn jeder, der ihn frage, erhalte eine ehrliche Antwort.
Am Ende ist es der Gast, der mit den Füßen abstimmt, welche Art von Küche er im Restaurant genießen möchte. Und für wen der gezielte Einsatz oder der bewusste Verzicht von Convenience-Ware über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Das Angebot ist nach wie vor sehr breit gefächert. Aber die handwerkliche Zubereitung – das glaubt auch Dehoga-Mann Max Haller – wird in Zukunft noch stärker eine Frage des Preises sein. Wobei das Kulturgut Gastronomie als solches ohnehin unbezahlbar ist.