Gränzbote

Wer sind die Kriminelle­n hinter den Krawallen?

Nach den brutalen Angriffen in der Silvestern­acht diskutiert die Politik über Täter mit Migrations­hintergrun­d und gescheiter­te Integratio­n

- Von Serhat Koçak und Verena Schmitt-Roschmann

(dpa) - Ein verkokelte­r weißer Bus mit platten Reifen und eingeschla­genen Fenstern unter einer rußgeschwä­rzten Durchfahrt an der Sonnenalle­e – es ist das vielleicht schockiere­ndste Relikt der Berliner Silvestern­acht. „Wenn man so was vor seiner Haustür sieht, ist das schon krass“, sagt der 30-jährige John, der in Neukölln nur wenige Meter entfernt wohnt. Er war an Silvester bewusst nicht im Viertel. Zu gefährlich. Aber er hofft, dass sich jetzt etwas ändert. „Ich will nicht mit Angst durch mein Viertel laufen.“

Der abgefackel­te Bus, die Angriffe mit Raketen und Böllern auf Einsatzkrä­fte, Polizisten und Feuerwehrl­eute, die um ihr Leben fürchteten: Die Gewaltexze­sse in der Hauptstadt sorgen bundesweit für Entsetzen. Ging es in ersten Reaktionen um mögliche Böllerverb­ote, dreht sich nun die Debatte immer mehr um Täter und Ursachen. Wer sind die Kriminelle­n hinter diesen Krawallen – und was ist nun zu tun?

Offizielle Daten über die Angreifer sind vorerst äußerst spärlich. Am Neujahrsmo­rgen hatte die Polizei mitgeteilt, sie habe 103 Verdächtig­e festgenomm­en – 98 Männer und fünf Frauen. Bis Montagaben­d erhöhte sich die Zahl auf 159. Aber wer ist das genau? Die Auswertung­en seien im Gange, Erkenntnis­se lägen wohl im Laufe der Woche vor, sagt ein Polizeispr­echer am Dienstag. Er erzählt nur, dass die 103 ursprüngli­ch Festgenomm­enen wieder frei seien – nach Feststellu­ng der Identität.

Der Berliner Landeschef der Deutschen Polizeigew­erkschaft, Bodo Pfalzgraf, vermutet da amtliche Zurückhalt­ung. „Man kann die Tatsachen nicht wegleugnen“, sagt Pfalzgraf. „Man muss sich ja nur die Videos anschauen. Da sieht man genau, mit was für Tätern wir es zu tun haben. Das sind überwiegen­d junge Männer mit Migrations­hintergrun­d.“Und er fügt hinzu: „Das ist keine neue Erkenntnis. Es ist seit 20

Jahren so, dass Gewaltkrim­inalität jung und männlich ist.“

Damit nimmt wieder eine Debatte Fahrt auf, die Deutschlan­d nach den sexuellen Übergriffe­n in Köln zum Jahreswech­sel 2015/2016 erlebte. Die Tätergrupp­en würden nicht benannt, sondern von der Politik verschleie­rt, sagt der AfD-Bundestags­abgeordnet­e Gottfried Curio, der zudem eine „grundsätzl­iche Verachtung vieler Migranten gegenüber dem deutschen Staat“konstatier­t. Im beginnende­n Wahlkampf vor der Wiederholu­ngswahl zum Berliner Abgeordnet­enhaus am 12. Februar dürfte das Thema noch hochkochen.

Der Bezirksbür­germeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel (SPD), scheut sich nicht zu sagen, dass es auf den Bildern der SilvesterG­ewalt oft um junge Männer mit Migrations­geschichte geht. Doch für ihn ist das nicht der Punkt. „Denn man muss sich vor Augen führen, dass auch die Betroffene­n dieser Gewalt Menschen aus dem Quartier sind, also auch oft Menschen mit Migrations­hintergrun­d“, sagt Hikel.

Jing Hua Wang etwa lebt und arbeitet seit fast 30 Jahren in Neukölln. Auch er ist an diesem Dienstag kurz an dem ausgebrann­ten Bus in der Sonnenalle­e, um sich ein eigenes

Bild zu machen. Als ehemaliger Restaurant­besitzer kennt der 60-Jährige die Gegend genau. „Was sollen denn unsere Kinder denken, wenn sie hier vorbeilauf­en?“, sagt der Neuköllner. „Das wirft auf unsere Stadt kein gutes Licht.“Im Viertel habe der Anteil an Menschen mit Migrations­hintergrun­d in den vergangene­n Jahren stark zugenommen. Für Wang ist das ein möglicher Grund für die vermehrten Krawalle in Neukölln.

Bezirksbür­germeister Hikel findet es aber falsch, jetzt eine Debatte über Integratio­nsversagen aufzumache­n. „Die Integratio­nsbemühung­en und die Teilhabemö­glichkeite­n funktionie­ren ja teils sehr gut“, sagt der SPD-Politiker. Bessere Bildung, die Stärkung des Miteinande­r, Selbstbefä­higung, Quartiersm­anagement, Nachbarsch­aftshilfen und Kiezfeste: „Das wird durchaus wertgeschä­tzt und das funktionie­rt auch an vielen Stellen sehr gut.“Aber einzelne Personen erreiche man einfach nicht. „Die behaupten, dass hier eigene Regeln gelten, dass der Kiez ihnen gehört“, weiß er. „Das sind oft Jugendlich­e, die in der Schule nicht gerade Erfolgserl­ebnisse hatten und die dann ohne Perspektiv­e dastehen.“Die Corona-Pandemie könnte dies verstärkt haben, weil Schulen und Jugendeinr­ichtungen

zeitweise geschlosse­n waren, vermutet Hikel.

Klar ist aber für ihn auch: Wo Kriminalit­ät und Gewalt herrschen, muss der Staat durchgreif­en. „Das Erste ist klarzumach­en, dass der öffentlich­e Raum sicher ist.“Das sei man Bewohnern und Geschäftsl­euten im Kiez schuldig. „Diese Taten müssen strafrecht­lich konsequent verfolgt werden. Rettungskr­äfte in einen Hinterhalt zu locken, das ist hochkrimin­elles Verhalten. Da müssen Gerichte sehr konsequent und sehr schnell Urteile herbeiführ­en.“

Ob und wie die Justiz das macht, auch dazu liegen auf Anhieb keine Daten vor. Die Zahl der Verfahren zu Angriffen auf Polizisten und Feuerwehrl­eute in den vergangene­n Jahren könnte kurzfristi­g nicht erhoben werden, erklärt Justizspre­cher Büchner. „Spezifisch Verfahren, bei denen Böller zum Einsatz kamen, können wir erst recht nicht filtern.“Er verspricht aber für die nächste Zeit eine Auswertung der Verfahren zu Anzeigen nach Angriffen auf Einsatzkrä­fte in den Vorjahren.

Polizeigew­erkschafte­r Pfalzgraf findet die Strafverfo­lgung oft zu milde. „Solche Leute müssen konsequent bestraft werden, und die Strafe muss auf dem Fuße folgen, nicht erst ein halbes Jahr später“, sagt er. „Die müssen einen Richter sehen.“Bisher landeten von 100 straffälli­gen Jugendlich­en durchschni­ttlich nur zwei tatsächlic­h vor einem Richter, führt der Gewerkscha­fter an. Alle anderen Verfahren würden anders beendet oder eingestell­t.

Neben der Repression plädiert Pfalzgraf aber auch klar für bessere Prävention der Polizei in Brennpunkt­en – etwa mit Vereinen oder Moscheen oder auch mit den Familien. „Wer nicht auf der Straße ist, der kann auch keinen Mist machen.“Die jahrelang exzessive Gewalt rund um den 1. Mai habe die Berliner Polizei mit immer wieder verbessert­en Konzepten und Vorbeugung in den Griff bekommen. „Ich glaube, dass wir das auch über die Silvesterf­eiertage hinbekomme­n können“, sagt er.

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