„Irrsinnige, für uns unvorstellbare Zeiten“
Finanzjournalist Frank Stocker über die Ursachen und den Verlauf der Hyperinflation von 1923
Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Jeden Monat fragen sich immer mehr Menschen, wie sie all die steigenden Kosten stemmen sollen. Ist die Situation heute schon dramatisch, vermag man sich wohl nicht vorzustellen, wie es 1923 in der Hyperinflation gewesen sein muss. Jeder Deutsche hat wohl Bilder dazu im Kopf. Der Finanzjournalist Frank Stocker hat nun ein Buch über diese Zeit geschrieben. Im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“spricht er über Ursachen und Verlauf der Hyperinflation – und ob es nicht doch Parallelen zu heute gibt.
Wie konnte das in Deutschland passieren, dass Menschen Milliarden von Mark mit dem Schubkarren zum Bäcker gefahren haben, um Brot zu kaufen?
Dafür gab es nicht eine Ursache. Es war eine ganze Reihe. Zumindest die erste kann man aber sogar auf den Tag genau benennen: Am 4. August 1914 hat der Reichstag die Goldbindung der Währung aufgehoben. Davor war die Mark zu zwei Dritteln an Gold gebunden. Nun konnte der Staat sich stark verschulden, um den Weltkrieg zu finanzieren. Und am Ende des Krieges hatte sich die umlaufende Geldmenge bereits verfünffacht. Die Wirtschaftsleistung aber hatte sich um ein Drittel verringert.
Der Plan, die Schulden mit dem siegreichen Ende des Krieges abzutragen, ging schief.
Genau. Dass Kriegsgegner für Schulden aufkommen, war nichts ungewöhnliches. Deutschland etwa hat nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 Frankreich Reparationen auferlegt. Dieses Muster sollte wiederholt werden. Wie wir wissen, ging das schief – stattdessen sollte Deutschland hohe Reparationen zahlen, umgerechnet mehr als 47 000 Tonnen Gold. Das war mehr als die deutsche Wirtschaftsleistung. Außerdem verlor das Deutsche Reich rund 13 Prozent seiner Fläche, darunter stark industrialisierte Regionen, wie Teile Oberschlesiens oder Elsass-Lothringen, zehn Prozent seiner Bevölkerung und 90 Prozent seiner Handelsflotte. Dazu kam ab Anfang 1923 die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen, um die Zahlung der Reparationen zu erzwingen. Das war damals das ökonomische Herz der jungen Weimarer Republik.
Und wie trug das zur Hyperinflation bei?
Es kam zum sogenannten Ruhrkampf. Beamte und Arbeiter des Ruhrgebiets legten die Arbeit nieder – bei vollem Lohnausgleich durch die deutsche Regierung. Das benötigte Geld wurde gedruckt. Das befeuerte die bereits Jahre zuvor schwelende Inflation so richtig. Während sich die Preise vor 1923 jedes Jahr bereits verdrei- oder vervierfacht hatten, kam es nun zur sprichwörtlich gewordenen galoppierenden Inflation. Preise explodierten in die Milliarden und Billionen. Es begann eine gigantische Vermögensvernichtung.
Hyperinflation bleibt dennoch ein abstrakter Begriff. Was bedeutete sie für Menschen im Alltag?
Sie bedeutete ganz konkret, dass das Geld nicht mehr seine Funktionen als Wertmesser und Zahlungsmittel übernehmen konnte. Das heißt, die Leute wollten es nicht mehr besitzen. Sobald jemand Geldscheine in der Hand hatte, tat er alles, um diese schnellstmöglich wieder loszuwerden. Irgendetwas kaufen, Hauptsache keinen wenige Stunden später beinahe wertlosen Schein in der Tasche. Ab Sommer 1923 kam es dann zu Hunger und Plünderungen. Die Städter fuhren raus aufs Land, um die Bauern zum Verkauf von Lebensmitteln zu zwingen oder sie gleich zu stehlen. Ohnehin ging es den Bauern sehr gut im Vergleich zu den Stadtbewohnern.
Gab es selbst in der Hyperinflation Gewinner?
Natürlich. Diejenigen die Schulden hatten, wurden diese rasch los. Der Großindustrielle Hugo Stinnes kaufte sich kreditfinanziert vor 1923 ein Konzernimperium zusammen. Fast über Nacht war es dann schuldenfrei. Wer Sachwerte besaß, kam glimpflich davon. Verheerend war es für Sparer. Viele lebenslang angesparte Vermögen
lösten sich über Nacht, oder noch schneller, auf den Konten auf.
War die Hyperinflation eigentlich ein rein deutsches Phänomen?
Nein. In
Österreich beispielsweise war das Gleiche passiert, mit drei bis sechs Monaten Vorlauf gegenüber Deutschland. Allerdings konnte das Land die Hyperinflation schon im August 1922 mit drastischen Reformen, vor allem Haushaltseinsparungen, und einem Kredit vom Völkerbund beenden.
Und bei den Siegermächten?
Dort gab es statt inflationärer Tendenzen eine massive Rezession. In den USA und Großbritannien hatten die Notenbanken nach dem Krieg rasch die Leitzinsen erhöht, um der Inflation keine Chance zu lassen. Es kam zu Massenarbeitslosigkeit und Protesten. In Deutschland dagegen boomte die Wirtschaft zwischen 1920 und 1922. Man war der Meinung, eine bessere Geldpolitik als andere Länder zu betreiben und die Inflation laufen lassen zu können. Dabei war man mit dieser Wirtschaftstheorie ein krasser Außenseiter.
Es gab keine mahnenden Stimmen?
Doch – aber vor allem aus dem Ausland. Der damalige britische Botschafter in Berlin hat notiert, dass er mit seinen Warnungen auf taube Ohren bei den Verantwortlichen stieß. Und dass jemand wie der Reichsbankpräsident für seine Politik in anderen Ländern gehängt werden würde.
Wie viel Geld wurde damals insgesamt überhaupt gedruckt?
Es wurden bis zum Ende der Hyperinflation Banknoten im Wert von 3,8 Trilliarden Papiermark gedruckt. Ich weiß nicht, wie man sich diese Summe begreifbar machen kann. Um der Inflation hinterherzukommen, wurden Scheine nur noch einseitig bedruckt und auf Sicherheitsmerkmale verzichtet. Fälschungen hätten sich ohnehin nicht gelohnt: Bis ein Fälscher sein Werk getan hätte, wäre es wertlos gewesen.
Gibt es denn Parallelen zwischen dem Pfad zur Hyperinflation und der heutigen Lage?
Ich warne davor, Parallelen zu ziehen. Damals ist so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Wenn überhaupt, könnte man den Vergleich zwischen damals und heute gemachten politischen Fehlern ziehen. Heute hängt allerdings kein Entscheidungsträger wirren Wirtschaftstheorien an. Wir erleben ja gerade, dass Notenbanken, allen voran in den USA, Zinsen deutlich erhöhen. Die Sorge, dass sich 1923 wiederholt, habe ich also nicht.
Wie hat denn die Weimarer Republik die Hyperinflation letztlich beendet?
Die neue Währung der Rentenmark war nicht das Entscheidende. Ein wichtiger Faktor war, dass die deutsche Regierung im September beschloss, den Ruhrstreik zu beenden. Außerdem wurde die Erwerbslosenfürsorge reformiert – sie wurde bis dato vom Staat bezahlt. Danach wurden die Kosten auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber umgelegt. Und, heute kaum vorstellbar, es wurden 25 Prozent aller Beamten entlassen. Bis 1. März 1924 entfiel so ein enormer Kostenblock. Des Weiteren wurde eine Art Schuldenbremse eingeführt im Staatshaushalt und das Gelddrucken eingestellt. Die neu eingeführte Rentenmark war das Symbol der Veränderung, hätte allein aber nichts bewirkt. Zehn Milliarden Papiermark konnten für einen Rentenpfennig eingetauscht werden.
Die Hyperinflation ist ja in den Köpfen aller Deutschen präsent. Was hat Sie letzlich überrascht?
Diese so tief in den Alltag eingreifende Dimension der Geldentwertung war mir zuvor nicht bewusst. Man weiß von den Summen, klar. Wenn man dann aber recherchiert, dass sich Preise ab dem zweiten Halbjahr 1923 täglich mindestens verdoppelten und von all dem Leid dahinter erfährt – das ist dann doch noch einmal etwas anderes. Irrsinnige, für uns heute unvorstellbare Zeiten.
Frank Stocker: Die Inflation von 1923 – Wie es zur größten deutschen Geldkatastrophe kam, FinanzBuch Verlag, 368 Seiten, 27 Euro.