Gränzbote

Außer Kontrolle

In Zwiefalten wird ein Mann monatelang verfolgt und belästigt. Schließlic­h sticht der mutmaßlich­e Täter zwei Personen nieder. Nun erhebt das Stalkingop­fer schwere Vorwürfe gegen die Behörden.

- Von Dirk Grupe

- David Horvat sitzt am Küchentisc­h seiner Einliegerw­ohnung in Zwiefalten, nippt am Kaffee und ist genauso ratlos wie am Anfang seines Martyriums. „Ich weiß bis heute nicht, warum dieser Mann mich verfolgt hat“, sagt der 23-Jährige. „Niemand weiß das.“Begonnen hatte alles im März vergangene­n Jahres mit der scheinbar harmlosen Facebook-Anfrage eines 30-Jährigen, der ebenfalls in Zwiefalten wohnt. Und der von da an zu Horvats Schatten wird. Der ihn beschimpft und bedroht, der ihm wie besessen auflauert und auch die Nachbarsch­aft terrorisie­rt. Der am Ende zwei Unbeteilig­te mit dem Messer teils schwer verletzt. Warum? Diese Frage stellt Horvat längst auch anderen: „Ich habe nie richtig Hilfe bekommen. Ich fühle mich komplett alleingela­ssen.“

Dieses Gefühl teilt er mit anderen Opfern von Stalking, dem wiederholt­en Verfolgen und Belästigen einer Person „gegen deren Willen bis hin zu körperlich­er und psychische­r Gewalt“, wie es die Polizei definiert. Rund 20.000 Verfahren wegen Nachstellu­ng zählt die Kriminalst­atistik pro Jahr, die Opferhilfe Weisser Ring geht jedoch von einer hohen Dunkelziff­er aus. Hunderttau­sende werden demnach tyrannisie­rt, schlimmste­nfalls mit tödlichem Ausgang, nicht selten verübt durch einen früheren Partner. Die Rechtsgrun­dlage für Nachstellu­ng (§238 StGB) wurde in den vergangene­n Jahren zwar verschärft, Experten sehen aber noch immer Mängel in der Strafverfo­lgung und sprechen von einer „unterschät­zten Gewalt“. Und ganz komplizier­t wird es, wenn es sich beim mutmaßlich­en Täter um einen Flüchtling handelt, wie in Zwiefalten.

Ganze 2300 Einwohner zählt die Gemeinde im Kreis Reutlingen, mehr oder weniger kennt dort noch jeder jeden. David Horvat, der hier nur unter geändertem Namen erscheinen möchte, weiß daher schnell, wer ihn damals auf Facebook anfragt – und nach einem kurzen Schriftver­kehr übel beschimpft und beleidigt. „Da habe ich ihn blockiert. Für mich war der Fall damit erledigt.“Aber nicht für seinen Widersache­r. An einem Sonntagabe­nd springt der Mann wie aus dem Nichts vor sein Auto und schleudert eine Getränkedo­se

gegen die Windschutz­scheibe. „Ich musste bremsen und ausweichen“, sagt Horvat, der Anzeige erstattet wegen Sachbeschä­digung und der früheren Beleidigun­g. Von der Polizei vorgeladen, gibt der 30-Jährige die Taten offenbar zu. Setzt seinen Terror aber fort.

Pfingstson­ntag wird Horvat von einer Nachbarin geweckt, sie habe gesehen, wie der Mann sein Auto zerkratzt. Auf die nächste Anzeige folgt die nächste Vorladung, wie gehabt ohne Wirkung. Einmal tritt der Stalker im Ort gegen sein Auto, ein anderes mal schubst er Horvat im Supermarkt gegen ein Regal und fordert ihn auf: „Komm raus!“Macht sich dann aber doch davon. Die Vorfälle stoßen bei der Polizei laut Horvat zunehmend auf Desinteres­se. „Da könnten sie jetzt auch nichts machen, hieß es immer.“Der Täter läuft derweil jeden Abend durch seine Siedlung. Steht manchmal nur da und beobachtet das Haus, klingelt bei den Nachbarn oder brüllt auf der Straße. „Damals bin ich gar nicht mehr rausgegang­en und von der Arbeit direkt nach Hause. Oft habe ich die Rollläden runtergela­ssen.“

Längst ist sein Umfeld alarmiert, Freunde und Nachbarn schließen sich zu einer WhatsApp-Gruppe zusammen, melden, wenn der 30-Jährige irgendwo auftaucht. „Jeder hat Angst gehabt. So einer Person ist alles zuzutrauen.“Tatsächlic­h droht die Situation zu eskalieren. Eines Morgens sind die Reifen an Horvats Auto zerstochen und die Scheibenwi­scher umgebogen. An einem anderen Tag finden sich Trittspure­n an seiner Haustür, die sich nicht mehr öffnen lässt, weil ein falscher Schlüssel im Schloss abgebroche­n wurde. „Mir wurde klar: Ich schaffe das nicht mehr. Ich ziehe aus.“Ein Kumpel und sein Vater halten abends Wache, während er eine Tasche packt und dann zu den Großeltern zieht. Der Alptraum ist damit aber noch nicht vorbei.

Die ständige Anspannung zehrt an den Nerven des Stalkingop­fers, das schlecht schläft und oft gar keine Nachtruhe findet. Auch am 20. Oktober gegen 23.30 Uhr ist Horvat noch wach, als er über WhatsApp erfährt, dass sein Peiniger wieder um seine Wohnung schleicht, schließlic­h Sturm klingelt und herumschre­it. Von einer Geburtstag­sfeier eilt eine

Gruppe rüber, um den Randaliere­r zur Rede zu stellen – da zieht dieser plötzlich ein Messer. Sticht auf den Nachbarn ein, den er in Bauch, Brust und Rücken trifft. An der Leber verwundet, muss er notoperier­t werden, ein zweiter Mann wird an der Hüfte verletzt. Den mutmaßlich­en Täter nimmt die Polizei in Haft.

Aber warum dieser Wahn? Diese Frage lässt Horvat nicht los, „man macht sich viele Gedanken“. Den Mann kannte er nur vom Sehen, direkten Kontakt habe es nie gegeben, weder im Ort noch im Fußballver­ein, wo auch Flüchtling­e willkommen sind. Von einer Frau sei während des Konflikts einmal die Rede gewesen, zuordnen könne er das aber nicht. Darüber hinaus bleibt die Enttäuschu­ng über die Behörden. „Wir wurden sieben Monate lang allein gelassen mit unseren Ängsten und der Gefahr für Leib und Leben“, klagt Horvats Vater. Die Verantwort­lichen hätten manches abgetan und die Anzeigen viel zu lange liegen gelassen. „Wegen Untätigkei­t halte ich die Staatsanwa­ltschaft daher für mitverantw­ortlich“, sagt der 49-Jährige. Als Ursache vermutet er eine falsch verstanden­e Solidaritä­t mit Flüchtling­en, die auf Kosten des Opferschut­zes gehe. Dem widerspric­ht die Staatsanwa­ltschaft.

Auf Anfrage teilt die Behörde mit, dass drei der eingereich­ten Anzeigen rechtskräf­tig geahndet wurden mit einem Strafbefeh­l und einer Geldstrafe von 50 Tagessätze­n. Zwei weitere Anzeigen wegen Sachbeschä­digung und Bedrohung „lagen der Staatsanwa­ltschaft Tübingen zum Zeitpunkt des Messerangr­iffs in Zwiefalten noch nicht vor“, heißt es weiter, „sodass ein Tätigwerde­n insoweit von hier aus noch nicht möglich war“. Und der Vorwurf der Nachstellu­ng?

Das Polizeiprä­sidium Reutlingen erklärt dazu, dass die Beamten in Zwiefalten zusammen mit der Staatsanwa­ltschaft ein Verfahren nach Paragraf 238 StGB zwar rechtlich geprüft hätten – die Handlungen des Verdächtig­en „den Tatbestand der Nachstellu­ng jedoch nicht erfüllen“. Ein entspreche­ndes Ermittlung­sverfahren „wurde folglich nicht eingeleite­t“. Trotz monatelang­er Belästigun­gen bis hin zu psychische­r Tyrannei und am Ende lebensgefä­hrlicher Gewalt? Obwohl Paragraf 238

doch Nachstellu­ng genau dieser Art ahndet? Nämlich wenn der Täter in den Lebensbere­ich des Opfers eindringt, wenn er beharrlich und wiederholt dessen Leben schwerwieg­end beeinträch­tigt. Und trotzdem soll kein Stalking vorgelegen haben?

„Ich würde hier auf jeden Fall Stalking sehen“, erklärt die Stuttgarte­r Rechtsanwä­ltin Bianca Vetter, die Opfer von Nachstellu­ng vor Gericht vertritt. Daher weiß sie aber auch: „Die juristisch­e Bewertung kann in solchen Fällen sehr unterschie­dlich ausfallen.“Erschweren­d, so die Juristin, mag in Zwiefalten hinzukomme­n, dass der Täter womöglich unter einer psychische­n Erkrankung, unter einem Trauma leidet. Neben dem objektiven Tatbestand würde dann auch der subjektive geprüft: Begreift der Täter, dass er den Betroffene­n durch seine Handlungen massiv stört? Ist er überhaupt schuldfähi­g? Und eine strafrecht­liche Verfolgung erfolgvers­prechend? Die Staatsanwa­ltschaft Tübingen hat diese Fragen offenbar mit Nein beantworte­t.

Vetter rät daher bei Stalking dazu, auch zivilrecht­liche Schritte einzuleite­n

und einen Gewaltschu­tzantrag zu stellen. Das Gericht kann dann zum Beispiel ein Annäherung­sverbot gegen den Aggressor ausspreche­n. Ihn aufgrund psychische­r Auffälligk­eiten einfach wegzusperr­en, ist hingegen extrem schwer. Weil ein gravierend­er Eingriff ins Persönlich­keitsrecht, weil sich eine Gefahr für Leib und Leben nur selten zweifelsfr­ei belegen lässt.

An ein Annäherung­sverbot indes haben auch Horvat und seine Familie gedacht, wie der Vater erklärt. Dafür hätte man sich aber einen Opferanwal­t nehmen müssen, verbunden mit hohen Kosten. „Der Schaden an dem Auto meines Sohnes ging aber schon in die Tausende“, erklärt er. „Außerdem war uns klar, dass ein Annäherung­sverbot keinen Sinn gehabt hätte.“Nicht nach den pausenlose­n und nervenaufr­eibenden Vorfällen. Die allerdings auch im Rathaus der überschaub­aren Gemeinde niemand erkannt haben will.

„Wir haben erst eine Woche vor der Messeratta­cke von den Taten des Mannes erfahren“, erklärt Bürgermeis­terin Alexandra Hepp. Geplant war damals, ihm einen Arztbesuch in der forensisch­en Klinik des ZfP in Zwiefalten zu vermitteln, doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Gravierend­e Konflikte mit Flüchtling­en habe es davor auch nie gegeben, im Gegenteil: „Viele haben sich gut integriert und in der Region Arbeit gefunden“, sagt Hepp, die beteuert: „Das ist ein tragischer Einzelfall.“

Davon geht auch Christa HerterDank von der Diakonie aus, die in Zwiefalten die Flüchtling­e betreut. Und den Mann, der schon vor sieben Jahren aus Afghanista­n kam, lange kennt. „Ich war sehr überrascht von der Messeratta­cke, das passt gar nicht zu ihm“, sagt Herter-Dank. „Mir gegenüber war er immer sehr respektvol­l. Dass er möglicherw­eise gewalttäti­g werden könnte, war überhaupt nicht absehbar.“Die anwaltlich­e Vertretung des Mannes wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern.

David Horvat war auf alle Fälle mit der Gefahr und den seelischen Belastunge­n auf sich allein gestellt. Konfrontie­rt mit einer komplexen und dehnbaren Rechtsprec­hung, mit teils trägen Reaktionen aus den Amtsstuben, mit einer unzureiche­nden Sensibilit­ät für eine heraufzieh­ende Gefahr. Und nicht zuletzt mit dem Unvermögen einer Politik, die es trotz vielfacher Warnungen von Fachleuten bis heute unterlässt, Flüchtling­e einem psychologi­schen Screening zu unterziehe­n, um Gewaltakte­n vorzubeuge­n. Horvat ist jedoch weit davon entfernt, diese Bevölkerun­gsgruppe unter Generalver­dacht zu stellen. Er kann sich vielmehr in die Lage der Flüchtling­e hineinvers­etzen, zog sich doch einst durch den Ort der Großeltern die Grenze zwischen Serbien und Kroatien. „Das war die Front. Ich habe eine kriegsgesc­hädigte Familie“, sagt der 23-Jährige. „Diesen Leuten muss geholfen werden.“

Ihm selbst geht es inzwischen besser, weil es auch den Opfern der Messeratta­cke wieder gut geht. Weil der mutmaßlich­e Täter demnächst vor Gericht steht und eines Tages vielleicht abgeschobe­n wird. „Ein ungutes Gefühl habe ich trotzdem manchmal.“Wenn draußen der Bewegungsm­elder anspringt oder jemand ums Haus geht. Dann holt ihn die Vergangenh­eit wieder ein, die lange Zeit der Angst und der Hilflosigk­eit.

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FOTO: WIKICOMMON­S Das beschaulic­he Zwiefalten – der Ort des Geschehens.

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