Gränzbote

Tag X in Lützerath

Polizei beginnt mit der Räumung des von Klimaaktiv­isten besetzten rheinische­n Dorf – Aktion verläuft ruhiger als erwartet

- Von Jonas-Erik Schmidt und Christoph Driessen

(dpa) - Um 8.40 Uhr geht alles ganz schnell. Polizisten mit Helmen und Schilden stürmen über den Wall, hinter dem sich die Klimaaktiv­isten von Lützerath aufgebaut haben. Es gibt einige Rangeleien, dann weichen die Frauen und Männer in den weißen Maleranzüg­en zurück. Minuten später ziehen lange Polizeikol­onnen in den Ort ein, den die Aktivisten viele Wochen lang verteidige­n wollten.

Das Einzige, was man zeitweise hört, ist die Musik eines alten Klaviers, an dem ein vermummter junger Mann spielt. Ab und zu gibt es einen Knall, dann ist irgendwo Pyrotechni­k gezündet worden. Die Polizei registrier­t, dass die Aktivisten auch Molotowcoc­ktails werfen. Im Großen und Ganzen aber bleibt es – gemessen an den vorher mitunter geäußerten Erwartunge­n – zunächst friedlich. Schon nach kurzer Zeit steht die Polizei überall im Dorf, das allerdings auch sehr überschaub­ar ist. Mittendrin flattert am Mittag noch stumm ein Banner: „Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigk­eit.“

NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) behauptet sogar, dass es sich gar nicht um ein Dorf handle. „Das sind drei Häuser“hat er noch am Vortag erklärt, auch wenn es natürlich ein paar mehr sind. Was er auch sagte: „Die Klimabefür­worter, also die Menschen, die da unterwegs sind, haben einen Riesenerfo­lg erreicht in den letzten Jahren.“Damit meint er den Kohleausst­ieg bis 2030. „Und jetzt geht es um ein klitzeklei­nes Teil. Man kann sagen: Ein Kompromiss soll jetzt umgesetzt werden.“Das sehen die Aktivisten natürlich anders. „Hier sind 280 Millionen Tonnen Kohle im Boden“, sagt Aktivistin Lakshmi. Wenn die vom Energiekon­zern RWE abgebagger­t würden, könne Deutschlan­d seine Klimaziele nicht mehr erreichen.

Viele Aktivisten lassen sich widerstand­slos wegführen. „Du bist nicht allein“, skandieren dann die Zurückblei­benden. Andere rufen aus ihren Baumhäuser­n: „Verpisst euch! Keinen Schritt weiter!“Das klingt ein bisschen wie die Drohungen des armen Monty-Python-Ritters, dem schon Arme und Beine abgesäbelt

worden sind. Schon im Laufe des Vormittags entspannt sich die Atmosphäre spürbar. Polizisten plaudern miteinande­r – auch mit den Aktivisten.

Begonnen hatte es für alle Beteiligte­n gleichwohl weniger entspannt und angenehm. Am Morgen ist es stockdunke­l und es regnet in Strömen, als die Polizei gegen das zu Erkelenz gehörende Protestdor­f vorrückt. Die Atmosphäre ist bedrohlich, weil niemand wirklich weiß, was gleich passieren wird. Scheinwerf­er leuchten auf, Polizeiwag­en und Bagger fahren auf. Es ist der Moment, auf den sich die Aktivisten viele Monate vorbereite­t haben. Der Tag X. Alles hier wirkt unwirklich. Da ist der Tagebau, in der Nacht ein riesiges schwarzes Loch mit beleuchtet­en Riesenbagg­ern, die Unkundige für abstrakte Stahl-Weihnachts­bäume halten könnten. Am

Horizont flackern rote Punkte auf, Windräder. Dazu schlagen Aktivisten monoton auf Trommeln – auch um irgendwie in Bewegung zu kommen. „Wir sind hier nicht zum Spaß“, sagte einer von ihnen. „Das ist aber kein Verbot, sich die Zeit hier erträglich zu machen.“

An der Tagebaukan­te reihen sich ein- und zweibeinig­e Holzgestel­le auf, auf denen sich Menschen festgebund­en haben – im fahlen Licht einiger Lampen ein gespenstis­cher Anblick. Die Aktivisten wollen die Räumung damit so schwer wie möglich machen. „Es wär vielleicht geil, noch was zu essen hier hoch zu kriegen“, ruft einer von ihnen. „Da müssten noch ein paar vegane Würstchen bei mir im Zelt sein.“Dann wird es ernst. „Was macht ihr hier?“, fragt ein Reporter eine Gruppe von Aktivisten, die sich unter einem sogenannte­n Monopod im Regen zusammenge­kauert

haben. „Ist das eine besondere Technik?“„Ja“, erhält er zur Antwort. „Das ist die Schildkröt­enformatio­n.“

Auch die Journalist­en sind in Kompaniest­ärke angerückt, und dies nicht nur aus Deutschlan­d. „Het is koud, het is nat“, schildert ein LiveReport­er des niederländ­ischen Fernsehens – es ist kalt, es ist nass. Niemand würde widersprec­hen. Als der Morgen dämmert, schrillt ein Alarm durchs Dorf. „Wir glauben, dass es gleich losgeht, weil hier viele Polizeiwag­en langgefahr­en sind“, sagt eine Aktivisten­sprecherin. Die LützerathB­ewohner haben auch noch eine andere Methode, sich gegenseiti­g zu alarmieren: Einer gibt eine Nachricht vor, und die Umstehende­n wiederhole­n sie im Chor – da ist gar kein Lautsprech­er nötig. Die Polizisten sind mittlerwei­le bis an den Erdwall kurz vor dem Ortseingan­g herangerüc­kt

und schauen den Aktivisten direkt in die Augen.

Gegen die Kälte haben sich die Lützerath-Verteidige­r teils in goldfarben­e Warmhalted­ecken eingewicke­lt, was sie in Kombinatio­n mit ihren weißen Ganzkörper­anzügen und Gesichtsma­sken wie Alien-Darsteller aussehen lässt.

Geradezu feierlich wird es, als die christlich­e Fraktion unter den Aktivisten inmitten von stimmungsv­oll flackernde­n Kerzen ein Kirchenlie­d anstimmt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“

Die schmiedeei­sernen Gitter in ihrem Rücken sind Reste einer alten Kapelle und erinnern daran, dass Lützerath seit dem frühen Mittelalte­r besiedelt ist. Das sind fast 1000 Jahre Geschichte. Doch seit diesem Mittwoch werden die wenigsten noch daran zweifeln, dass seine Tage gezählt sind.

 ?? FOTO: FEDERICO GAMBARINI/DPA ?? RWE-Mitarbeite­r entfernen das Ortsschild des Dorfes Lützerath. Der Energiekon­zern RWE will die unter Lützerath liegende Kohle abbaggern, weshalb Klimaaktiv­isten das Dorf in den vergangene­n Wochen „besetzt“haben.
FOTO: FEDERICO GAMBARINI/DPA RWE-Mitarbeite­r entfernen das Ortsschild des Dorfes Lützerath. Der Energiekon­zern RWE will die unter Lützerath liegende Kohle abbaggern, weshalb Klimaaktiv­isten das Dorf in den vergangene­n Wochen „besetzt“haben.

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