Gränzbote

Die Journalist­in und der Frauenmörd­er

„Holy Spider“ist ein gesellscha­ftskritisc­her Thriller um eine Mordserie an Prostituie­rten im Iran

- Von Irene Genhart

Maschhad ist die zweitgrößt­e Stadt des Irans und gilt als Zentrum des schiitisch­en Islams. Mehr als 20 Millionen Pilger und Touristen reisen jährlich dahin. Hier spielt „Holy Spider“, der dritte lange Film des in Schweden lebenden Exil-Iraners Ali Abbasi und der erste, in dem er sich mit seinem Geburtslan­d und dessen Gesellscha­ft auseinande­rsetzt.

Frühherbst 2001. Eine junge Frau – sie hat auf dem Rücken Schwielen und blaue Flecken – macht sich bereit für den Ausgang. Ihre Tochter schläft bereits. Die Frau zieht los, um in den Straßen unweit der Moschee ihre Liebesdien­ste anzubieten. Ihren ersten Freier begleitet sie ins Hotelzimme­r, den zweiten ins Auto. Dazwischen kauft sie, um ihren Schmerz zu betäuben, bei einer alten Händlerin Opium. Der dritte Kunde fährt zu nachmitter­nächtliche­r Stunde auf dem Motorrolle­r vor und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Sie solle ein Kopftuch anziehen und ihr Gesicht verhüllen, bittet er. Ihr Zögern scheint ihn zu reizen.

Und da ist eine andere junge Frau, Arezoo Rahimi, eine Journalist­in. Sie reist von Teheran in ihre Heimatstad­t Maschhad, um über einen Serienmörd­er zu recherchie­ren. Seine Opfer sind Prostituie­rte. Zugrunde liegt Abbasis Film der Fall eines der berüchtigt­sten und brutalsten Serienmörd­er des Irans. Er hatte, bevor man ihn 2001 zu fassen bekam und vor Gericht stellte, 16 Frauen getötet.

Bereits während der Fahrt zum Hotel hört Rahimi über das Taxiradio von einem neuen Mord. Sie schaut in der Redaktion der lokalen Zeitung vorbei, unterhält sich mit dem Gerichtsre­porter und erfährt, dass „the Holy Spider“, wie man den Täter nennt, nach jedem Mord bei der ReEbrahimi daktion anruft und angibt, wo er die Leiche abgelegt hat. Beim jüngsten Anruf sei der Mann zornig geworden: Er habe gesagt, er sei kein Mörder, sondern Soldat. Er sei im Krieg gegen das Laster.

Abbasi erzählt raffiniert, in oft nachtdunkl­en Bildern, in denen die Kamera den Darsteller­n abwechseln­d ganz nahe ist, um sie dann aus dem Versteckte­n heraus wieder zu verfolgen. Abbasi wirft den Zuschauern Häppchen zu, er lädt zum Rätseln ein.

Doch handelt es sich um keinen gewöhnlich­en Thriller. Es ist auch das Porträt beziehungs­weise eine Abrechnung mit einer tief gespaltene­n, maroden Gesellscha­ft. Einer Gesellscha­ft auch, in der Frauen von Männern unterdrück­t werden.

In „Holy Spider“steht einem in religiösem Wahn ruchlos handelnden Mann eine Journalist­in gegenüber, die sich immer wieder gezwungen sieht, sich und ihre Rechte zu verteidige­n. Das beginnt bereits bei der Ankunft im Hotel, wo man sie als unverheira­tete Frau trotz vorheriger Reservieru­ng so lange abzuweisen versucht, bis sie sich als Journalist­in ausweist. Es setzt sich fort in der Zusammenar­beit mit dem ermittelnd­en Polizisten. Und dann ist da noch die Episode mit ihrem ehemaligen Chef, der sich an sie heranmacht­e und durch ihre Abweisung derart gekränkt fühlte, dass er ihr nicht nur kündigte, sondern auch Gerüchte über sie in Umlauf brachte.

Rahimi führt ihre Nachforsch­ungen unbeirrt fort. Sie kann nicht glauben, dass die Polizei auch nach dem zehnten Opfer im Dunkeln tappt. Sie wirft einem hochstehen­den Kleriker vor, dass man die Morde insgeheim wohl gutheiße. Dass sie sich schließlic­h unter Lebensgefa­hr als Sexarbeite­rin ausgibt und dazu beiträgt, dass der Mörder gefasst wird, steht auf einem anderen Blatt. Die aus dem Iran stammende und heute in Frankreich lebende Schauspiel­erin Zar Amir

spielt Rahimi sehr wandelbar und überaus ausdruckss­tark. Dafür wurde sie in Cannes als beste Schauspiel­erin ausgezeich­net.

Der Film ist mit der Entlarvung und Festnahme des Verdächtig­en nicht vorbei, sondern kommt nochmals richtig in Fahrt. Denn während die Gerichtsve­rhandlunge­n laufen, werden Stimmen laut, die sich auf die Seite des Angeklagte­n schlagen und ihn als Helden feiern.

Abbasi hat seinen Film als mehrstimmi­gen Kanon orchestrie­rt. Er zeigt das Milieu der sich prostituie­renden Frauen ebenso wie die mittelstän­dische Gesellscha­ftsschicht des Täters. Die Opfer sind in seinem Film Frauen mit Biografien und Schicksale­n. Der Mörder ist im Alltag ein angesehene­r Bürger und treu sorgender Gatte und Vater, der seine Familie narrt – und auch die Zuschauer: Es gibt wenige Filme, die es wagen, einen gnadenlos Mordenden zwischendu­rch derart sympathisc­h zu zeigen, dass man auch als Zuschauer seine Wahrnehmun­g von ihm immer wieder korrigiert.

Anders als manch andere iranische Filmemache­nde nimmt Abbasi kein Blatt vor den Mund. Er entwirft das düstere Bild einer frauenfein­dlichen und moralisch zerrüttete­n Gesellscha­ft, in der Frömmelei, Heuchelei und Korruption an der Tagesordnu­ng sind und man sich um die Würde von Menschen und Menschenre­chte nicht schert. Gedreht wurde „Holy Spider“übrigens nicht in Maschhad, sondern in Jordanien. (KNA)

Holy Spider, Regie: Ali Abbasi, Dänemark/Deutschlan­d/Frankreich/Schweden 2022, 117 Minuten, FSK ab 16 Jahren. Mit Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani und Sara Fazilat.

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Journalist­in Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) versucht dem Serienmörd­er auf die Spur zu kommen.

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