Viele Junge leiden an psychischen Problemen – doch warum?
Trotzdem ist das Thema psychische Gesundheit in vielen Gebieten noch ein Tabu
(sbo) - Seit 30 Jahren arbeitet Grulke mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Eine Veränderung in der Zahl der Betroffenen könne er in seiner täglichen Arbeit feststellen. "Die Zahl der registrierten Fälle ist höher", erzählt er unserer Redaktion. Die Stigmatisierung solle besser geworden sein, doch genug Aufmerksamkeit sei dem Thema dennoch nicht gewidmet, meint Grulke.
Er blickt zurück in der Zeit: "Es gab die Diskussion, ob es Depressionen bei Kindern überhaupt gibt. Mittlerweile wird das nicht mehr hinterfragt." Doch noch immer sei die Psychologie ein Randfach der Wissenschaft. Das Totschweigen psychischer Erkrankungen habe, laut dem Professor, auch wirtschaftliche Gründe. "Psychische Störungen verursachen Kosten. So kostet ein krankes Kind etwa 100 000 Euro", behauptet er.
Auch der Ausfall von Mitarbeitern in Firmen aufgrund der Psyche habe relevante Auswirkungen auf die Wirtschaft. Doch das Leiden der Menschen sei groß. "Die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität von Depressiven, ist so wie die von Krebskranken", erläutert Grulke.
Wenn so viele betroffen sind, warum spricht man dann so wenig darüber? "Die Akzeptanz gegenüber psychischen Störungen ist kleiner, weil sie niemand sieht", klärt er auf. Ein gebrochenes Bein würde von Mitmenschen erkannt und akzeptiert werden, doch bei inneren Verletzungen würde diese Toleranz deutlich kleiner ausfallen.
Vor allem Angststörungen, Depressionen und Verhaltensauffälligkeiten, wie Aggressionen, seien häufig auftretende Krankheitsmuster. Dabei solle sich das Verhalten bei männlichen und weiblichen Patienten unterscheiden. Jungen seien häufiger sozial gestört, zeigen aggressives oder unsoziales Verhalten auf. Mädchen seien eher nach innen gewandt und leiden oft an Essstörungen oder Ähnlichem, meint Norbert Grulke.
Von Covid abgesehen sollen, laut Grulke, Familien ein Faktor sein, warum sich psychische Erkrankungen bei jungen Menschen häufen. Der familiäre Zusammenhalt soll schlechter geworden sein, meint er. "Eine unterstützende und liebende Familie ist ein guter Schutzfaktor gegen psychische Störungen", erklärt der Professor. Vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Milieus sollen, laut Aussagen von Grulke, während Corona häufig psychisch erkranken. Probleme innerhalb der Familie, die in der Corona-Zeit gravierender wurden, spiegelten sich in der Gesundheit der Kinder wieder, gibt er zu verstehen.
Ein weiterer Aspekt, der die Jugend von heute massiv präge, seien soziale Medien oder laut den Worten von Norbert Grulke die "asozialen Medien". Darin sollen sich Hassbotschaften schneller verbreiten, als positive Nachrichten, was dem mentalen Wohlbefinden nicht zu Gute kommt, behauptet er. Dieses Verhalten läge in der Genetik der menschlichen Psyche. Negative Nachrichten rufen im Gehirn eine stärkere Reaktion hervor als Positive, deswegen würden sie eher verbreitet werden.
Soziale Medien seien, laut des Professors, zudem "demokratie- und gesellschaftsgefährdend". Der Zusammenhalt der Gesellschaft sei durch sie strapaziert. Unterschiedliche Meinungen und Informationsfluten, bei denen man kaum unterscheiden könne, bei welchen es sich um Fakten handelt, würden die Gesellschaft teilen, befürchtet er. Doch die Medien seien nicht nur schlecht, gut genutzt könnten sie auch Positives bewirken, stellt Grulke klar.
Norbert Grulke weiß aus seiner Erfahrung, dass Institutionen wie Kindergärten und Schulen förderlich für die Entwicklung der Psyche seien. "Für bildungsferne Schichten sind gute Kitas wichtig, doch diese sind momentan ein riesen Problem, aufgrund des Platzmangels", meint er. Kinder aus ressourcenschwachen Familien seien in Kitas besser umsorgt, versichert er.
Nach Grulke sollte jedoch mehr Wert auf ein "emotional warmes und werteorientiertes Klima" gelegt werden. Er ist sich sicher, dass schon eine Bezugsperson, beispielsweise ein Lehrer, zuträglich für die Psyche sei oder den Schüler sogar davor bewahren könne, eine Störung zu entwickeln. Aufklärung sei demnach eine wichtige Grundlage, um junge Menschen zu schützen. Norbert Grulke appelliert an die Älteren: "Durch eine Entstigmatisierung könnte man bei Problemen deutlich schneller handeln." Meistens dauert eine Diagnose Monate oder Jahre, durch mehr Aufklärung könnte diese Zeit verkürzt werden, meint der Professor. Außerdem sollen mehr Gelder in das Feld der Psychologie und die Behandlung von Patienten fließen. Eine bessere Vernetzung der Institutionen wären ebenfalls von Vorteil, betont er.