Wirrwarr um Tempo-Limit in der Werderstraße
Wie viel Stundenkilometer gelten dort eigentlich? Sieben? Zehn? – Der Blitzer löst erst ab 19 km/h aus
- Abends in einer Spielstraße geblitzt – und das gleich zweimal. Das ist dem Tuttlinger Lothar Graf in der Werderstraße passiert. Sein Kommentar: „Abzocke übelster Form.“Zumal erst gar nicht klar war, wie viel Stundenkilometer in der Werderstraße zulässig sind – und ab welcher Geschwindigkeitsübertretung es einen Bußgeldbescheid gibt.
Zunächst hieß es von der Stadt Tuttlingen, dass in der Spielstraße, in der sich ein Kindergarten und die Ludwig-Uhland-Realschule samt Sporthalle befinden, sieben Stundenkilometer (km/h) als Tempolimit gelten. In den Bußgeldbescheiden, die versendet wurden, ist von einer zulässigen Geschwindigkeit von zehn km/h die Rede. Was gilt denn nun?
Stadtsprecher Arno Specht verweist auf die Urlaubszeit rund um Weihnachten und die Tatsache, dass nicht immer alle städtischen Mitarbeiter, die sich mit dem Thema auskennen, zu greifen gewesen seien. Er erklärt nun: In einer Spielstraße wie der Werderstraße gilt Schrittgeschwindigkeit, und darunter versteht der Gesetzgeber zwischen sieben und 15 km/h. Diese Spanne gelte deshalb, weil analoge Tachometer in Autos nicht in der Lage seien, genaue Zahlen in diesem untersten Geschwindigkeitssegment anzuzeigen. Also orientieren sich die Bußgeldbescheide an einer Überschreitung der Zehn-km/h-Marke, weil damit ein ungefährer Mittelwert von sieben und 15 angesetzt wird. Damit richte sich die Stadt Tuttlingen nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm, das als Grundsatzurteil gelte.
Mehr als ein Dutzend Rückmeldungen hat Lothar Graf auf seinen Aufruf bekommen, dass andere, die dort auch geblitzt wurden, sich an ihn wenden sollen. Der überwiegende Teil sieht den mobilen Blitzer dort kritisch, sagt er. „Es ist tatsächlich eine Abzocke, den Blitzer auch noch über das Wochenende stehen zu lassen und dann am Montagmorgen abzubauen (habe ich selber beobachtet)“, schreibt ein Anwohner, der gegen 17.30 Uhr in der Werderstraße geblitzt wurde. Sein Vorschlag: Eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf „X“Stundenkilometer von Montag bis Freitag, 7 bis 16 Uhr, anzubringen. Also eine Regelung, wie es sie an der Karlschule gebe, wie er schreibt.
Auch Otto Schoch aus Emmingen-Liptingen hat es in der Werderstraße
erwischt. Mit 27 km/h nach Toleranzabzug. Macht 70 Euro Bußgeld für die Ordnungswidrigkeit plus 25 Euro Bearbeitungsgebühr und 3,50 Euro Auslagen – also 98,50 Euro. Das dortige Tempolimit sei ihm nicht bewusst gewesen. „Die (mobile) Geschwindigkeitsüberwachung mittels Blitzer ist hier ein Witz und obendrein eine Frechheit gegenüber (treuen) Leuten, die in Tuttlingen noch regelmäßig zum Einkaufen gehen“, schreibt er in einer Mail an die Verwaltung. Er hat Widerspruch gegen das Bußgeld eingelegt. „Jetzt geht das vor Gericht“, sagt er. Die Bearbeitungsgebühr habe ihm den Rest gegeben. Seine Argumentation gegen den Bescheid: Wegen der Baustelle am Amtsgericht habe er um ein geparktes Baufahrzeug herumfahren müssen. „Dadurch muss die Geschwindigkeitsmessanlage falsch gemessen haben.“
Dabei kommt die Stadt Tuttlingen den Verkehrsteilnehmern bereits insofern entgegen, als dass der Blitzer in der Werderstraße erst ab 19 km/h ausgelöst hat. Alles, was drunter ist, wird nicht geahndet. Specht: „In einer verkehrsberuhigten Zone geht es nicht darum, die zu erwischen, die knapp darüber liegen. Sondern die, die deutlich darüber sind.“834 Autofahrer
wurden innerhalb der einen Woche in der Werderstraße als zu schnell gemessen.
Eine Rückmeldung hat Graf auch vom Tuttlinger Oberbürgermeister Michael Beck bekommen: „Ihre Argumentation, dass die Kontrollen an dieser Stelle „Abzocke“wären, kann ich so nicht nachvollziehen“, schreibt Beck in seinem Brief. Mit gleicher Argumentation könnten etwa auch nächtliche Kontrollen in Tempo-30-Zonen so bezeichnet werden. Die Bürger, vor allem Fußgänger, müssten sich aber darauf verlassen können, dass diese Beschilderung auch nachts gelte. Würden seine Mitarbeiter auf Kontrollen zu bestimmten Zeiten verzichten, würde faktisch ein rechtsfreier Raum geschaffen. Beck weist zudem darauf hin, dass es einen einfachen Weg gebe, sich das Verwarn- oder Bußgeld zu ersparen: „Hierzu muss nur die vorgeschriebene Geschwindigkeit eingehalten werden.“
Was Lothar Graf am meisten ärgert: Der überwiegende Anteil der Betroffenen sei im Rentenalter und wohne wie er im südlichen Stadtteil, so seine Einschätzung. Graf: „Auch damit ist bewiesen, dass diese Geschwindigkeitsüberwachung in der Werderstraße überwiegend Autofahrer
überführt hat, die mit großer Sicherheit nicht als Raser zu bezeichnen sind, sondern eher durch sehr langsame Fahrweise auffallen.“Und: Ein stadteinwärts fahrender Autofahrer könne beim Rechtsabbiegen in die Werderstraße das Verkehrsschild Spielstraße kaum wahrnehmen, weil es zu nahe an der Einmündung stehe und nach Norden ausgerichtet sei.
Das Bußgeld hat er bereits bezahlt und damit das verfahrensrechtlich notwendige Einverständnis zum Wirksamwerden der Verwarnung erteilt. Doch er bleibt dabei: „Ich kann hier mit dem besten Willen keine Einsicht zeigen.“Diese Verkehrsüberwachung sei eine ganz eindeutige Abzockemaßnahme, offensichtlich besonders von Tuttlinger Rentnern, stellt er fest. Die Geschwindigkeitsobergrenze ergebe am Spätnachmittag und in der Nacht keinerlei Sinn, weil dadurch nicht die Verkehrssicherheit erhöht wurde, „sondern nur der Frust bei den Menschen“.
Und wer jetzt überlegt, wie schnell Schrittgeschwindigkeit mit dem Auto ist: „Mit Standgas das Auto im ersten Gang rollen lassen“, weist Arno Specht auf Hinweise von Fahrlehrern hin.